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GastkommentarHendrik Streeck: Mehr Pragmatismus im Umgang mit Corona

Wir müssen endlich aufhören, nur schreckstarr auf die Infektionszahlen zu schauen. Statt Panik braucht es Pragmatismus und ein vorausschauendes System.Hendrik Streeck 08.10.2020 - 19:40 Uhr Artikel anhören

Der Wissenschaftler leitet das Institut für Virologie am Universitätsklinikum Bonn.

Foto: Handelsblatt

Vor rund 120 Jahren kam das neue Coronavirus OC43 über die Menschheit und löste vermutlich eine Pandemie aus. Manche vermuten, dass dies die damalige „Russische Grippe“ gewesen ist, und einige Daten sprechen in der Tat dafür.

Wenn der Erreger es war, dann starben geschätzt eine Million, vor allem ältere Menschen an diesem Virus, das damals durchaus ernst zu nehmen war: OC43 ist von der Kuh auf den Menschen übergesprungen. Heute ist dieses Virus bei uns längst heimisch geworden. Wir nennen dies endemisch.

Es gibt vier Coronaviren, die bei uns endemisch sind und die im Herbst und in den Wintermonaten zehn bis 30 Prozent der grippalen Infekte bei uns ausmachen. Diese quasi „üblichen“ Coronaviren, zu denen mittlerweile auch das OC43-Virus gehört, sind längst nicht mehr so gefährlich, wie sie früher einmal waren. Denn wir haben uns an sie gewöhnt – und sie sich auch an uns.

Jetzt kommt die Jahreszeit, in der die Coronavirus-Infektionen wieder vermehrt auftreten. Das gilt mit Sicherheit auch für das neue Coronavirus Sars-CoV-2, was wiederum vielfältige Gründe hat: Wir halten uns jetzt mehr in warmen Innenräumen auf. Die Luftzirkulation dort ist schlechter, die Schleimhäute sind anfälliger, die Temperatur für respiratorische Erkrankungen optimaler und und und ... Also werden die Infektionszahlen steigen.

Die Sorgen wegen temporärer Restriktionen an lokalen Hotspots flammen entsprechend neu auf. In Berlin wurden bereits wieder harte Maßnahmen verhängt. Dabei werden wahrscheinlich viele Städte den Grenzwert von 50 Neuinfizierten auf 100.000 Einwohner sehr bald überschreiten.

Sieben Kreise haben den Schwellenwert bereits überschritten; acht weitere stehen kurz davor. Um es klar zu sagen: Niemand weiß, wie sich das Infektionsgeschehen weiter entwickelt, aber es ist wahrscheinlich, dass die Zahlen weiter steigen werden. Trotz Alltagsmaske. Trotz Abstand. Trotz Hygiene und Lüftung.

Diese Faktoren helfen übrigens durchaus, das Infektionsgeschehen zu kontrollieren und wahrscheinlich die Symptomatik zu verringern. Gänzlich unterbinden können wir es mit diesen Maßnahmen nicht. Ein Leben mit Corona bedeutet auch zu akzeptieren, dass Sars-CoV-2 – wie vorher die anderen vier endemischen Coronaviren – bei uns heimisch wird.

Es bedeutet auch zu akzeptieren, dass wir nicht alle Infektionen unterbinden können, sondern als Ziel verfolgen müssen, dass wir Todesfälle, schwere Verläufe und Langzeitfolgen vermeiden. Es bedeutet aber auch zu realisieren, dass uns das nicht immer gelingen wird. Hier genügt ein Blick auf die nackten Zahlen, da wir trotz der Maßnahmen auch im Sommer Todesfälle, schwere Fälle und Langzeitfolgen erlebt haben.

Positiv ist, dass sich in den vergangenen Monaten unser Gesundheits- und Laborsystem extrem gut entwickelt hat. Die Zahl der Testungen hat sich mehr als verdreifacht. Die Nachverfolgung der Infektionsketten ist optimiert geworden. Und es ist ins Bewusstsein gerückt, wie wichtig unsere Gesundheitsämter sind. Dazu kommt, dass wir Daten gesammelt haben – sehr viele Daten.

Dies alles bewirkt, dass 4000 Neuinfektionen pro Tag zurzeit nicht mehr das Gleiche bedeuten, was sie im März und April bedeutet haben. Mit vielen Maßnahmen verringern wir alle gemeinsam also derzeit, dass zu viele Infizierte einen schweren oder gar tödlichen Verlauf erleben. Unser Verhalten (Stichwort: AHA-Regeln) trägt entscheidend dazu bei wie auch der bessere Schutz der Risikogruppen.

Auch hat sich die medizinische und intensivmedizinische Versorgung enorm verbessert. Ein Vergleich mit den Zahlen und Vorgehensweisen im März und April ist daher nicht mehr geboten. Vielmehr sollten wir unsere Daten dazu nutzen, ein intelligenteres und vorausschauendes System zu entwickeln. Unsere Datenlage liefert bereits heute Antworten auf die Fragen nach der Zahl von Krankmeldungen sowie Hospitalisierungen im Zusammenhang mit Covid-19 und lässt auch Prognosen zu.

Ein Marathon, kein Sprint

Derzeit sehen wir, dass nur ein geringer Anteil der Infizierten wirklich eine medizinische Versorgung benötigt. Der prozentuale Anteil wird zwar steigen, aber auch das ist kalkulierbar. Die reinen Infektionszahlen stellen dies nicht dar und zeigen nicht das an, worauf es ankommt. Dies hat kürzlich der renommierte Leiter des Gesundheitsamts in Frankfurt, Prof. René Gottschalk, in der Analyse zum Infektionsgeschehen für Frankfurt am Main deutlich herausgestellt.

Die Infektionen mit milden und asymptomatischen Verläufen sind nicht das Problem. Die Verläufe, die intensivmedizinisch oder stationär behandelt werden müssen, sollten mehr im Zentrum unserer Aufmerksamkeit stehen. Gerade weil wir so gut im Testen und Nachverfolgen sind, sehen wir prozentual derzeit viel mehr Infektionen, die aber weniger relevant sind, um das Pandemiegeschehen in toto zu beobachten.

Aufgrund des Zusammenhangs zwischen Test- und Infektionszahlen ist bereits die Infektionszahl alleine nur bedingt aussagekräftig. Genauso wichtig ist die stationäre und intensivmedizinische Belegung. Denn hieran misst sich am Ende, wo die Grenzen unseres Gesundheitssystems liegen. Anstatt eindimensional müssen wir mehrdimensional denken lernen.

Abhilfe kann hier ein Ampelsystem schaffen, das auf dem Zusammenspiel von Infektionszahlen, Anzahl der Tests, stationärer und intensivmedizinischer Belegung basiert. Schwellenwerte können definiert werden für einzelne Landkreise unter Berücksichtigung der jeweiligen Faktoren und Krankenhäuser sowie auf Bundesebene, um den Gesamtblick besser einschätzen zu können.

Wer kann denn wirklich wissen, ob ein Anstieg von 2000 auf derzeit über 4000 Neuinfektionen pro Tag zu viel ist oder gar nicht mehr handhabbar? In München können die Schwellenwerte anderswo liegen als in Friesland. In Göttingen anderswo als in Bonn.

Derzeit sind wir generell noch im grünen Bereich. Eine Ampel könnte klar signalisieren, wann dieser Fall nicht mehr gegeben ist. Persönlich würde ich mich nämlich mehr sorgen, wenn anstelle von 50 feiernden Jugendlichen mit milder Symptomatik 30 Personen stationär behandelt werden müssen. Eine Ampel kann dies abbilden. Die reinen Infektionszahlen können es nicht.

Unser Plan A ist der Impfstoff, der uns Erleichterung im Umgang mit dem Virus bringen soll. Wann er kommen wird, ist leider ungewiss. Daher wäre es sinnvoller, über Plan B nachzudenken. Nämlich darüber, wie wir ein Leben mit dem Virus ermöglichen. Ein Leben mit bewusster Achtsamkeit uns und unseren Mitmenschen gegenüber.

Wer jemals einen Marathon gelaufen ist, weiß, dass einen spätestens nach Kilometer 5 die anfeuernden Menschen am Straßenrand zwar noch freuen, aber dass sie nicht mehr den Ausschlag geben, um immer weiterzulaufen. Die Motivation durch Publikum wirkt nur bei einem Sprint. Einen Marathon besteht man dagegen durch den Willen, dass man Eigenverantwortung übernimmt und aufeinander Acht geben will.

Die Frage darf also nicht lauten „Wann ist ein Impfstoff verfügbar?“, sondern vielmehr „Wie schaffen wir es, dass wir souverän mit dem Virus umgehen und uns die Pandemie eint und nicht spaltet?“ Denn so eine Pandemie kann man nur gemeinsam bewältigen – und das auch ausschließlich global.

Es ist unstrittig, dass unser Fokus im weiteren Verlauf der Pandemie auf dem Schutz von Risikogruppen liegen muss. Wir wissen, dass das Virus besonders für ältere Menschen und solche aus Risikogruppen gefährlich ist. Gleichwohl müssen wir darüber nachdenken, wie wir eine Isolation ganzer Bevölkerungsgruppen (oft gegen deren eigenen Willen) verhindern.

Leben ohne Pause-Knopf

Mit Blick auf Seniorenheime ist es denkbar, Besucher in einem „Schleusen“-Modell nur nach negativem Schnelltest zuzulassen. Auch Pflege- und Medizinpersonal benötigt einen entsprechenden Schutz. Zur Realität gehört aber auch, dass trotz ausreichender Ausstattung der Altenpflegeheime mit Schutzausrüstung für das Personal und Beachtung aller Hygienevorschriften nicht vollständig vermieden werden kann, dass das Virus in die Heime eindringt. Jedoch kann einer Weiterverbreitung in diesen Einrichtungen bereits heute effektiv vorgebeugt werden.

Zwischen all der berechtigten Debatte, den Rufen nach ausreichend Schutz und den Bestrebungen, unsere medizinische Versorgung nicht in einen fatalen Kollaps zu führen, stehen wir als Mediziner, aber auch alle Politiker in der Verantwortung, eine faktenbasierte Ruhe zu bewahren.

Nicht jeder Anstieg der Infektionszahlen darf hierbei Sorge bereiten. Nicht mal der Anstieg von Fallzahlen auf den Intensivstationen sollte zu einem reflexhaften „Siehste, hab ich dir gesagt!“ führen. Es ist unstrittig: Wenn die Infektionszahlen steigen, hat das auch Konsequenzen für die stationäre und intensivmedizinische Belegung der Krankenhäuser. Auch werden wir einen Anstieg in den Todeszahlen sehen. Dies können wir aber nicht verhindern, sondern nur minimieren und kontrollieren.

So wie OC43 vor rund 120 Jahren gewütet hat, stellt uns jetzt Sars-CoV-2 auf die Probe. Es ist ein ernst zu nehmendes Virus, aber es bedeutet gleichwohl nicht unseren Untergang. Es lässt sich nicht „wegdemonstrieren“. Und Lockdowns bedeuten kein Allheilmittel, sondern sind eine Art „Pause-Knopf“ des Lebens, das ja weitergehen muss.

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Ein Leben mit dem Virus bedeutet für mich selbst, Achtsamkeit gegenüber mir selbst und meinen Mitmenschen. Es bedeutet, intelligente Systeme zur Überwachung des Infektionsgeschehens zu entwickeln und die Menschen am besten zu schützen, die das Risiko haben, einen schweren Krankheitsverlauf zu erleiden.

Mehr denn je sind pragmatische Lösungsansätze gefragt, wie wir Leben ohne Pausen erlauben können. Wissenschaftler müssen ihren Beitrag dazu liefern. Es ist wichtiger denn je, dass wir nicht nur stur an Konzepten festhalten, sondern bereit sind, neue Wege zu beschreiten. Auch neue Wege der Kommunikation. Eine Corona-Ampel würde als erster Schritt beides ermöglichen.

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