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GastkommentarZögert Europa im Herbst weiter, könnte der Winter Putin gehören

Die Regierung Merz hat versprochen, eine Führungsrolle in der europäischen Verteidigungspolitik zu übernehmen. Höhere Ausgaben reichen aber nicht, mahnen Nicole Koenig und Leonard Schütte.Nicole Koenig, Leonard Schütte. 30.09.2025 - 10:55 Uhr Artikel anhören
Gastkommentar, Nicole Koenig, Leonard Schütte Foto: Bundeswehr/Francis Hildemann, privat (2)

In seiner Rede in der Generaldebatte zum Haushalt hat Bundeskanzler Friedrich Merz einen Herbst der Entscheidungen angekündigt. Dabei ging es neben innenpolitischen Fragen auch zentral um sicherheitspolitische Weichenstellungen. Um die Verteidigungsfähigkeit Europas zu stärken, muss sich die Bundesregierung in den kommenden Monaten schwierigen Herausforderungen stellen.

Die Sicherheitslage in Europa ist prekär. Die Ukraine steht unter massivem russischen Druck, während Moskau seine hybride Kriegsführung gegen Nato-Länder intensiviert. Europa bleibt zudem von einem wankelmütigen US-Präsidenten abhängig, der mal Kiew, mal Moskau die Verantwortung für den Krieg zuschreibt und die militärische Unterstützung der Ukraine zeitweise ganz ausgesetzt hat. Parallel arbeitet das Pentagon an Plänen, US-Truppen und -Gerät aus Europa abzuziehen.

Trotz vielfacher Weckrufe ist Europa bei der Verteidigungswende längst nicht da, wo es sein sollte. Die Fähigkeitslücken sind immens, die Produktionskapazitäten weiterhin unzureichend, und Rivalitäten lähmen die verteidigungsindustrielle Zusammenarbeit. Zwar sind die Verteidigungsausgaben europaweit gestiegen, doch der Druck, schnell aufzurüsten, und der Wunsch, dass zusätzliches Geld Wachstum beflügeln möge, drohen nationale Egoismen zu verschärfen.

Die Regierung Merz ist mit dem Anspruch angetreten, Europas Verteidigungswende anzuführen. Die Zusage, das neue Nato-Ausgabenziel von 3,5 Prozent des BIP bereits 2029 – und somit deutlich vor Großbritannien und dem krisengeplagten Frankreich – zu erreichen, hat diesen Anspruch unterstrichen. Doch Führung bemisst sich nicht allein an höheren Ausgaben. Um ihrem Führungsanspruch gerecht zu werden, muss die Bundesregierung drei dringende Herausforderungen angehen.

Erstens: Deutschland muss zur treibenden Kraft in der Ukraine-Unterstützung werden und die militärische Hilfe hochfahren. Zwar ist die Bundesrepublik in absoluten Zahlen die größte Unterstützerin Europas, doch gemessen an der Wirtschaftskraft liegt sie weit hinter den nordischen und baltischen Ländern. Ein Teil der zusätzlichen Mittel sollte direkt in die ukrainische Verteidigungsindustrie fließen, die über ungenutzte Kapazitäten verfügt. Dass sich Bundeskanzler Merz jüngst für die Nutzung der eingefrorenen russischen Vermögenswerte als Grundlage für ein 140-Milliarden-Euro-Darlehen zur langfristigen Finanzierung der ukrainischen Verteidigung ausgesprochen hat, beweist Führungswillen.

Gastkommentar

Wie Europa bei der Verteidigung aufholen kann

Doch auch bei der Vorbereitung robuster Sicherheitsgarantien für die Ukraine muss die Bundesregierung Farbe bekennen. Wenngleich eine öffentliche Debatte darüber verfrüht ist, sollte Berlin beginnen, die Rolle der Bundeswehr in möglichen Szenarien zu definieren. Das würde nicht nur die Verhandlungsposition der Ukraine gegenüber Russland stärken, sondern auch die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass die USA einen Beitrag zu Sicherheitsgarantien leisten.

Zweitens: Deutschland muss zum Motor der europäischen verteidigungsindustriellen Kooperation werden. Dabei gilt es, kurzfristig Impulse für die gemeinsame Beschaffung zu setzen, aber auch mit europäischen Partnern längerfristig zu planen. Die nächste Gelegenheit bietet der Fahrplan zur Umsetzung der Verteidigungsbereitschaft 2030, der beim Europäischen Rat im Oktober beschlossen werden soll. Parallel dazu sollte sich die Bundesregierung vertraulich und mit den engsten Partnern – allen voran Frankreich, Polen und Großbritannien – über die Konsolidierung des europäischen Rüstungsmarkts und die mittelfristigen Auswirkungen eines Rückzugs der Amerikaner abstimmen.

Drittens: Deutschland muss über den eigenen Haushalt hinausdenken. Viele europäische Partner stoßen finanziell an ihre Grenzen. Nationale Schuldenberge machen weitere Ausgaben riskant, Steuererhöhungen oder Sozialkürzungen bergen politischen Sprengstoff. Berlin sollte sich daher aktiv in die Debatte über die Nutzung der eingefrorenen russischen Vermögenswerte einbringen, die zuletzt an Dynamik gewonnen hat. Außerdem sollte sich die Bundesregierung klar hinter die Kommission stellen, die eine deutliche Erhöhung der Mittel für die Verteidigung im nächsten EU-Haushalt vorgeschlagen hat.

Ein strategischer Schock – etwa eine abrupte Verschlechterung der Lage in der Ukraine – könnte das Thema der gemeinsamen Verschuldung für die Verteidigung schnell wieder auf die Tagesordnung bringen. Für diesen Fall sollte die Bundesregierung entsprechende Pläne in der Schublade haben.

Verwandte Themen Ukraine Europa Friedrich Merz Deutschland Großbritannien Bundeswehr

All diese Vorschläge bergen Risiken und Nebenwirkungen. Doch wahre Führung zeigt sich daran, Dilemmata zu benennen und Risiken abzuwägen. Das größte Risiko wäre eine Niederlage der Ukraine. Wenn Europa im Herbst zögert, könnte der Winter Putin gehören.

Über die Autoren: Nicole Koenig ist Head of Policy der Münchner Sicherheitskonferenz. Leonard Schütte ist International Security Program Fellow an der Harvard University. Die Autoren haben in dieser Woche eine „Munich Security Analysis“ veröffentlicht, in der sie die Dilemmata der deutschen Verteidigungspolitik ausführlich untersuchen. Die Analyse ist auf www.securityconference.org abrufbar. 

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