Gastkommentar: Wie Europa bei der Verteidigung aufholen kann
Das Ausmaß der Herausforderung ist enorm. Vom Krieg in der Ukraine bis zu geopolitischen Spannungen im Indopazifik und am Horn von Afrika – die Notwendigkeit robuster Verteidigungsfähigkeit war selten größer.
Die Verteidigungshaushalte wachsen in ganz Europa - auch aus Berlin kommen erste Zeichen für ein künftig weiter steigendes Verteidigungsbudget. Doch ein entscheidendes Dilemma bleibt: Wie können wir die Produktion schnell skalieren, um der Bedrohungslage gerecht zu werden? Die europäische Verteidigungsindustrie stößt in dem bisherigen System an ihre Grenzen.
Die sogenannte Zeitenwende verlangt eine grundsätzliche Neubewertung der Zusammenarbeit in der europäischen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie. Der Verteidigungssektor muss in letzter Konsequenz neu strukturiert werden – im Sinne eines europäischen Modells, das auf Innovationskraft, Flexibilität und Offenheit setzt.
Kooperation statt nationaler Champions
Wir sollten zügig Kooperationen von innovativen Unternehmen auf den Weg bringen, um Europas industrielle Fähigkeiten zu bündeln. Im globalen Vergleich sind die Produktionskapazitäten Europas extrem gering.
Wir neigen in Europa noch immer dazu, nationale Champions zu fördern, Forschung und Entwicklung sowie geistiges Eigentum national zu sichern. Während Europa beispielsweise über insgesamt 29 verschiedene Zerstörer- und Fregatten-Typen verfügt, sind es in den USA gerade einmal vier. Das versinnbildlicht die bestehende Herausforderung.
Nachdem der Kapitalmarkt die Verteidigungsbranche jahrzehntelang stiefmütterlich behandelt hat, ist nun eine neue Euphorie entstanden. Dabei gibt es viele Spieler am Markt, die nur mit Fantasien und Ideensammlungen bereits jetzt enorm viel Geld eingesammelt haben.
Allerdings werden die etablierten industriellen Unternehmen auch in dieser neuen Welt das Rückgrat für die Umsetzung und Systemintegration bilden. Dabei sollten wir auf die einzigartigen Stärken der europäischen Partner und ihre langjährige Erfahrung und Expertise in der Entwicklung von Land-, Luft- und Marinesystemen bauen.
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Zusätzlich bedarf es jedoch klarer politischer Unterstützung: So ist eine schnelle Klärung der europäischen Verteidigungsbedarfe entscheidend. Welches Land soll welche Fähigkeiten bis wann beschaffen? Und welche Fähigkeitslücken sind besonders eilig zu decken? Hierzu ist eine enge Zusammenarbeit von politischen Entscheidungsträgern und Industrievertretern notwendig.
Nötig ist ein sofortiges Umdenken: Nationale Fragmentierung, Silodenken und bürokratische Ineffizienz sind in der neuen Realität nicht angezeigt. Die aktuelle Situation erfordert grenzüberschreitende Kooperation sowie einen flexiblen, dezentralen Ansatz, der auf Skalierbarkeit und Agilität basiert.
Die Bündelung von Produktionskapazitäten – eine echte gemeinsame Nutzung von Kapazitäten und Kompetenzen – kann helfen, der wachsenden Nachfrage gerecht zu werden und die Effizienz zu steigern. Gemeinsame Produktionslinien, geteilte Forschungs- und Entwicklungsinitiativen, aber auch grenzübergreifend koordinierte Beschaffungsstrategien sind das Gebot der Stunde.
Für die Beschaffung sind europaweite Standards nötig
Für Innovation und Geschwindigkeit in der Beschaffung muss Europa verstärkt auf die Harmonisierung von Prozessen setzen. Denn „Goldrandlösungen“ - also stark individualisierte Produkte - und viel zu kleinliche und strikte Spezifikationen haben in der Vergangenheit viele europäische Projekte verzögert oder sogar verhindert. Die Vereinfachung und Standardisierung von Anforderungen ermöglichen nicht nur eine effizientere und kostengünstigere Produktion, sondern erleichtern auch die grenzüberschreitende Zusammenarbeit.
Um den schnelllebigen sicherheitspolitischen Herausforderungen gerecht zu werden, brauchen wir in Europa darüber hinaus einen Beschaffungsrahmen, der auf gemeinsamer Bedarfsplanung und Echtzeit-Koordination mit der Industrie basiert. Auch die national unterschiedlichen Exportvorschriften in Europa sollten weiter angeglichen werden, um Planungs- und Investitionssicherheit zu erhöhen und politisch motivierte Verzögerungen zu verhindern.
Schließlich müssen Verteidigungsinvestitionen durch flexiblere Finanzierungsmodelle unterstützt werden. Gemeinsame Investitionsfonds, Exportkreditunterstützung und beschleunigte Haushaltsgenehmigungen sind erforderlich, damit die Industrie ihre Produktionskapazitäten schnell und effektiv skalieren kann.
Die europäische Sicherheits- und Verteidigungsindustrie befindet sich in einer tiefgreifenden Zeitenwende, deren erfolgreiche Umsetzung neue Ansätze und Lösungen erfordert. Unternehmen in ganz Europa arbeiten bereits daran.
Diesen Weg gilt es nun entschieden, schnell und konsequent weiter zu gehen, um zu einer stärkeren europäischen Verteidigung zu gelangen, die der neuen Lage gerecht wird. Hierzu braucht es neben vertrauensvollen industriellen Partnerschaften aber auch einen klaren politischen Willen.
Der Autor: Oliver Burkhard ist CEO von Thyssen-Krupp Marine Systems.
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