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Kapitalismus-DebatteWelche Art von Kapitalismus wollen wir?

Das ist keine Frage von ökonomischen Zwängen, sondern von gesellschaftlicher Gestaltung. Entscheidend ist, dass wir in Deutschland der Marktwirtschaft wieder eine Orientierung geben.Michael Vassilliadis 21.03.2012 - 11:28 Uhr Artikel anhören
Foto: IGBCE/Martin Schlüter

Wir Deutsche tun uns schwer, unser Wirtschaftssystem unbefangen Kapitalismus zu nennen – in den neuen wie den alten Bundesländern. Zu Recht? Zumindest waren wir im Westen stolz darauf, aus dem Kapitalismus mehr gemacht zu haben, als Marx und Engels und deren spätere Interpreten prophezeit hatten. Als dann der Ostblock mit seiner verqueren Ideologie von Planwirtschaft und kollektiver Freiheitsberaubung unterging, schien so etwas wie eine historische Gewissheit die Gesellschaften rund um den Globus erreicht zu haben. Aber Gewissheiten sind trügerisch.

Heute meint die Hälfte der Deutschen laut einer Befragung des Allensbacher Instituts für Demoskopie, dass der Kapitalismus in seiner heutigen Form nicht mehr in die Welt passt. Spätestens jetzt ist es an der Zeit zu fragen: Was läuft da schief? Ganz offenbar zu viel, als dass man die derzeitigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fehlentwicklungen länger ignorieren könnte.

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Im kapitalistischen Mutterland, den USA, findet das in dem Ruf „Occupy Wall Street“ seinen Ausdruck. In Deutschland sucht derweil der Bundestag mit der Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ nach neuen „Wegen zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft“. Innerhalb wie außerhalb der Parlamente, in der breiten Bevölkerung wie in der kleinen Teilmenge der Entscheidungsträger in Wirtschaft und Gesellschaft wächst die Skepsis, dass die heutige ökonomische (Un)Ordnung zu guten Ergebnissen bei tolerierbaren Kosten führt.

Dieses Unbehagen ist kein Symptom einer kurzfristig erschütternden Zuversicht, sondern Resultat einer tiefen, seit Jahren schwelenden Vertrauenskrise.

Im Prinzip befürworten die Menschen nach wie vor ein Wirtschaftssystem, das auf unternehmerischer Initiative, auf Leistungsgerechtigkeit sowie auf dezentraler Steuerung durch Märkte beruht. Es gibt nirgendwo ernsthafte Forderungen, zurück zum Modell einer staatlich gesteuerten Planwirtschaft zu gehen. 
Der Kapitalismus hat also „gesiegt“ - aber das besagt wenig. Vielmehr stellt sich die Frage, welche Ausprägung von Marktwirtschaft sich letztlich durchsetzt: Die angelsächsische Variante weitgehend ungesteuerter Renditeorientierung? Die chinesische Variante mit einer Steuerung durch eine autoritäre Bürokratie? Oder das kontinentaleuropäische Modell des sozialen Ausgleichs und der gesellschaftlichen Verantwortung?

Natürlich sind das grobe Kategorisierungen, die etwa die durchaus nennenswerten Unterschiede zwischen Deutschland, Frankreich oder Skandinavien sowie Details außer Acht lassen. Aber im Grundsatz entscheidet sich die Zukunft des Kapitalismus daran, welche Ausprägung von Marktwirtschaft sich auf Dauer im globalen Maßstab durchsetzen wird. Und das ist eine Entscheidung, die keinen ökonomischen Zwangsläufigkeiten, sondern einem gesellschaftlichen Gestaltungsprozess folgt.

Der Kapitalismus vermag ungeheure Produktivkräfte freizusetzen. Er kann aber auch von zerstörerischer Wirkung sein – wenn es an der notwendigen Rahmensetzung fehlt. Zumeist handelt es sich dabei nicht um Kollateralschäden des Fortschritts und der Innovation, wie gerne behauptet wird, sondern um Missachtung: von Verantwortung und Haftung. Die Folgen hat in den meisten Fällen die Gesellschaft zu tragen.

Erste Bedingung für eine vernünftige Entwicklung ist daher, die von den Realitäten losgelösten Finanzmärkte einer effektiven und angemessenen Regulierung zu unterwerfen. Die Krisen der jüngsten Vergangenheit hatten ihren Ausgangspunkt wesentlich in zügelloser Spekulation einer vom realen Wirtschaftsgeschehen abgekoppelten, im Übrigen völlig überdimensionierten Finanzwirtschaft.

Zweitens muss das Leistungsversprechen, also die Teilhabe am wirtschaftlichen Erfolg, eingelöst werden. Stattdessen ist derzeit eine zunehmende Konzentration von Einkommen und Vermögen in den Händen weniger zu beobachten – auch in Deutschland, wo die reichsten zehn Prozent der Gesellschaft über 60 Prozent des gesamten Vermögens verfügen. Ein Wirtschaftssystem, das ungerechtfertigte Privilegien auf Kosten der breiten Bevölkerung schafft, nimmt sich selbst die Legitimation. „Das große Versprechen an individuellen Lebensmöglichkeiten hat sich in sein Gegenteil verkehrt“, schreibt FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher. Ob das so ist oder nicht, kommt nicht von ungefähr, sondern ist vor allem das Ergebnis bewusster Entscheidungen in Wirtschaft und Politik.

Wir werden in Zukunft die marktwirtschaftliche Dynamik mehr denn je brauchen, um eine rasch wachsende Weltbevölkerung mit Nahrung und Energie zu versorgen. Wir brauchen Investitionen und Innovationen, um Umwelt- und Klimaprobleme zu lösen. Wir brauchen im demografischen Wandel steigende Effizienz und höhere Produktivität, um wettbewerbsfähig zu bleiben und unser Wohlstandsniveau zu halten. Wir brauchen Wachstum, um die Staatsverschuldung abzubauen – auch im Sinne von Generationengerechtigkeit.

Entscheidend wird sein, ob wir wenigstens in Deutschland – und mindestens in Europa – der Marktwirtschaft Orientierung geben können: weg von kurzfristigen, häufig überzogenen Renditeerwartungen und hin zu einer nachhaltigen Entwicklung, die auf der Akzeptanz von ökonomischen, sozialen und ökologischen Bedürfnissen beruht.

Spätestens jetzt ist die Zeit reif für einen demokratischen Verständigungsprozess über die Werte, an denen sich das Wirtschaftsgeschehen auszurichten hat. Wir haben die Chance, die gewaltigen Aufgaben der Menschheit mit einer gestaltenden, sozialen Marktwirtschaft zu bewältigen. Und damit der Frage nach der Zukunft des Kapitalismus eine befriedigende Antwort zu geben, die von globaler Ausstrahlung sein wird.

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Michael Vassilliadis ist Vorsitzender der IG Bergbau, Chemie, Energie.


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