Marktwirtschaft: Verbessern, nicht beschimpfen

Frank Wiebe ist Kolumnist des Handelsblatts.
Düsseldorf. Das kennt jeder: Plötzlich tauchen Szenen im Kopf auf, die schon Jahrzehnte her sind. Flashback nennen das die Psychologen. Wer der heutigen Debatte über den Kapitalismus folgt, weiß, was ich meine. Man fühlt sich zurückversetzt in die 70er-Jahre, als in unseren Schulen linke Schüler konservative Lehrer beschimpften, derweil linke Lehrer nach zwei Gläsern Rotwein anfingen, von Che Guevara zu schwärmen. Nur die Rollen sind mittlerweile vertauscht: Nachdem die meisten Linken längst Teil des Systems geworden sind, kritisieren Konservative wie Thatcher-Biograf Charles Moore oder „FAZ“-Herausgeber Frank Schirrmacher „das System“. Wenn in Mode und Design „retro“ angesagt ist, warum dann nicht auch in der politischen Debatte?
Doch zur Aufklärung und Erkenntnis trägt die bisherige Debatte über den Kapitalismus wenig bei. Die Frage lautet nicht, ob wir Marktwirtschaft wollen, sondern, welche wir wollen.
Es gibt weltweit viele Varianten dieses Systems, die zum Teil auch mit betulicheren Namen bezeichnet werden – wie „Soziale Marktwirtschaft“. Aber in einem Punkt ähneln sie sich alle: Es muss einen Mechanismus geben, über den das Kapital in diejenigen Unternehmen fließen kann, die es produktiv verwerten. Nur so entsteht Wohlstand. Nur so verschwindet Armut.
Länder, bei denen alte feudale Strukturen oder eine fehlende juristische und finanzielle Infrastruktur dies verhindern, leiden nicht an zu viel, sondern an zu wenig Kapitalismus – und dort kann ebenso wenig wie im Sozialismus breiter Wohlstand entstehen.
Aber auch wenn durch ein Übermaß an Spekulation und Blasenbildung an den Finanzmärkten Kapital fehlgeleitet wird, funktioniert das System nicht mehr richtig, wie wir in den letzten Jahren vor Augen geführt bekamen: Das war nicht die Marktwirtschaft, wie wir sie kannten. Das war ihre Perversion, und sie hat gewaltige Schäden hinterlassen – die Schätzungen gehen bis zu zehn Billionen Dollar. Dabei hat sie nicht nur Banken, sondern auch viele Bürger in den Ruin getrieben.
Wir sollten uns auf die praktischen, politischen Fragen konzentrieren. So wie Deng Xiaoping, der einst den Schwenk Chinas zu Kapitalismus und Wohlstand unter dem Motto eingeleitet hat: „Es ist egal, ob die Katze weiß oder schwarz ist, solange sie nur Mäuse fängt.“ Die eifrigsten Befürworter des heutigen Wirtschaftssystems sind ebenso anfällig für Klischees wie seine Gegner. Wenn rechte Amerikaner den europäischen Kapitalismus als „Sozialismus“ bezeichnen, ist das genauso ein Unsinn, als wenn Linke alles, was in der Welt nicht funktioniert, dem Kapitalismus anlasten. Hier berühren sich die Extreme.
Der Kapitalismus der Zukunft sollte pragmatisch und aufgeklärt sein. Pragmatisch in dem Sinne, dass Probleme, die über Märkte nicht zu lösen sind, ohne ordnungspolitische Bauchschmerzen anders gelöst werden sollten. Pragmatisch heißt auch: Wir müssen die Freiheit nutzen, dieses System verantwortlich zu gestalten, wie Nikolaus von Bomhard, der Chef der Münchener Rück, betont. Aufgeklärt in dem Sinne, den Kapitalismus nicht zu idealisieren: Er sorgt für Wohlstand, aber nicht automatisch für Gerechtigkeit oder eine heile Umwelt. Er fördert eine offene Gesellschaft, aber er garantiert keine Chancengleichheit. Er ist ein Wirtschaftssystem, keine allgemeine Beglückungsmaschine. Er ist robust, aber nicht unverwundbar. Ja, er wird zwangsläufig immer wieder auch Unternehmen, Arbeitsplätze und ganze Branchen zerstören, um kreativ zu bleiben, wie zum Beispiel der US-Bestsellerautor Ian Bremmer kürzlich in einem Beitrag im Handelsblatt deutlich machte.
Aufgeklärt heißt: Die Vorstellung, der Kapitalismus sei ein System ohne Krisen, hat sich mit den letzten Krisen erledigt – gleichzeitig auch der dogmatische Teil der Wirtschaftwissenschaften, der uns dieses Bild vorgespiegelt hat. Die alte marxistische Prognose, der Kapitalismus werde an seinen Krisen scheitern, hat sich aber ebenfalls erledigt. Wirtschaftshistoriker wussten schon lange, dass dieses System ein wahres Stehaufmännchen ist. Der Historiker Werner Plumpe vertritt daher sogar ausdrücklich die These, dass der Kapitalismus und der Wohlstand, den er schafft, ohne Krisen nicht zu haben sind: Im Kapitalismus wird immer wieder Kapital, spekulativ getrieben, fehlgeleitet – mit dramatischen Folgen für die Bevölkerung, die unter zu hohen Lebensmittelpreisen leidet oder Vermögen und Arbeitsplätze verliert. Trotzdem sorgt er besser als jedes andere System dafür, dass überhaupt Kapital entsteht und nicht nur, wie in feudalen Systemen, unproduktive Reichtümer gehortet werden. Insofern haben die letzten Jahre, die Plumpes These illustrieren, das ideologische Arsenal auf der rechten wie der linken Seite gleichermaßen entwertet. Die Hoffnung, eine Welt ohne Krisen schaffen zu können, sollten wir aufgeben – aber nicht die Hoffnung, zu lernen, mit diesen Krisen umzugehen und sie möglichst einzugrenzen.
Aufgeklärt heißt in diesem Zusammenhang auch, sich von manchen liebgewordenen ordnungspolitischen Vorstellungen zu verabschieden. Nicht weil sie von der Zielsetzung her falsch wären, sondern weil sie einfach zu wenig mit der Realität zu tun haben. Die unter überzeugten Marktwirtschaftlern beliebte Vorstellung, dass der Staat einen Rahmen setzt und sich die Unternehmen darin tummeln, ist zu idyllisch, um wahr zu sein. In der Realität hat beinahe jedes Land ein sehr eigenes Ineinander von staatlichen und privaten Strukturen geschaffen, in denen administrative Entscheidungen und Marktbewegungen zusammen- oder gegeneinander spielen. Der deutsche Mittelstand etwa, entgegen allen Abgesängen das robuste Rückgrat unserer Wirtschaft, wird zum großen Teil von öffentlichen Banken finanziert. Der US-Immobilienmarkt ist indirekt über staatliche Baufinanzierer vom Steuerzahler abhängig. Das Geld ist in der Hand staatlicher Notenbanken. Die Anleihemärkte, die größten Kapitalmärkte der Welt, werden von Staatspapieren dominiert, während die Staaten umgekehrt finanziell von privaten Investoren abhängig sind. Und die letzten Jahre haben auch gezeigt, dass ein Kapitalismus ohne vernünftiges Sozialsystem anfällig für eine gefährliche private Überschuldung ist: Ein gewisses Maß an staatlicher Umverteilung ist daher nicht nur aus sozialen, sondern auch aus ökonomischen Gründen notwendig.
Aufgeklärt heißt: dieses komplizierte System in seiner Wirklichkeit auch so verstehen – und nicht wie es im ökonomischen Modell funktionieren könnte. Da gibt es nicht nur für Wissenschaftler, sondern auch für Politiker und Finanzaufseher noch eine Menge zu tun. Aber auch die Topmanager der Banken müssen sich stärker für das große Ganze verantwortlich fühlen und nicht nur für die nächsten Quartalszahlen; gerade das Investment-Banking macht einen guten Teil seiner Geschäfte in der Grauzone zwischen Politik und Finanzmärkten.
Unterschätzt haben Ideologen von links wie von rechts die Anpassungsfähigkeit des Kapitalismus, die dessen Fortbestand für die Zukunft sichert. Walter Eucken hatte zwar recht mit der These, dass man eine Grundsatzentscheidung treffen muss, ob Wirtschaft in erster Linie über Märkte oder per Kommando organisiert werden soll: Ein bisschen Kapitalismus geht nicht. Aber wenn die Entscheidung einmal für die Märkte gefallen ist, dann ist dieses System erstaunlich robust. Es überlebt Inflationen, massive Umverteilung durch den Staat, die Ausklammerung ganzer Branchen aus der Marktwirtschaft, die Einmischung militärischer Kommandostrukturen. Ähnlich wie das Internet den Ausfall einzelner Server und Leitungen durch Verlagerung umgehen kann, hat sich der Kapitalismus immer wieder den unterschiedlichsten politischen Strukturen angepasst, solange man den Unternehmern ein notwendiges Minimum an Freiraum ließ.
Diese überraschende Robustheit bedeutet nicht, dass der Kapitalismus unverwundbar wäre oder auf gar keine politischen Voraussetzungen angewiesen wäre. Entscheidend ist vielmehr die Frage, wie sicher Kapital angelegt werden kann. Das heißt aber auch: Die Unternehmer brauchen gesicherte Vermögensrechte. In vielen Schwellenländern liegt genau hier das Problem, wie vor allem der Ökonom Hernando de Soto, der sich als Regierungsberater einen Namen gemacht hat, immer wieder betont: Wenn ganze Stadtviertel als Slums existieren, die jederzeit im Rahmen einer Modernisierung ersatzlos geräumt und niedergewalzt werden können, dann bildet sich dort kein echtes Vermögen.
Es entsteht vielleicht ein Markt mit Kleinproduktion und Dienstleistungen, aber es bildet sich kein Kapital. De Soto, der ebenfalls zu den Autoren dieser Ausgabe zählt, geißelt aber heute auch die westlichen Länder dafür, dass sie mit einem Übermaß an Verbriefungen und Derivaten ein Chaos angerichtet haben, das die Grundlage des Kapitalismus – klare Eigentumsverhältnisse – untergraben hat.
Mit dem Eigentum ist auch eine zweite Grundvoraussetzung des Kapitalismus angesprochen: die Herrschaft des Rechts. Es muss nicht gleich ein komplizierter, mit eigener Verwaltungsgerichtsbarkeit ausgebauter Rechtsstaat sein wie in Deutschland. Aber wichtig ist doch, dass bestimmte Regeln gelten und auch eingehalten werden – vor allem, dass es die Möglichkeit gibt, die Einhaltung von Verträgen sicherzustellen. Einige große Schwellenländer haben dazu reichlich Anschauungsmaterial geliefert. In Russland etwa fehlte nach dem Zusammenbruch des Kommunismus ein durchsetzungsfähiges Privatrecht. Geschäftliche Streitigkeiten oder unbezahlte Rechnungen wurden daher oft mit Gewalt erledigt, gewaltige Vermögen ohne rechtliche Grundlage aufgehäuft: So ist die Entwicklung des Kapitalismus dort von Anfang an schiefgelaufen, was bis heute gravierende Folgen hat. Trotzdem wird auch Russland den Kapitalismus nicht wieder abschaffen, muss aber damit leben, dass er weit unter seinen Möglichkeiten bleibt, solange die rechtsstaatlichen Probleme nicht gelöst sind.


China und Indien haben ihre eigenen Probleme, wie vor allem Francis Fukuyama sehr plastisch dargestellt hat. In China gibt es seit Jahrhunderten einen relativ gut funktionierenden Staat, aber keine rechtsstaatliche Tradition. In Indien ist es umgekehrt. Bisher hat die chinesische Variante des Kapitalismus in der Breite mehr Wohlstand geschaffen. Aber die Behörden dort sind inzwischen auch bemüht, sichere Eigentumsrechte zu garantieren und die Willkür lokaler Machthaber zu beschneiden. In Indien fehlt es dagegen nicht an den grundsätzlichen Rechtsvorstellungen, aber die chaotischen Strukturen der Politik und der Verwaltung behindern die Entwicklung. In beiden Fällen ist aber nicht der Kapitalismus das Problem, sondern der noch immer geltende „Primat“ einer unzureichenden Politik.
Ein weiteres Problem ist die Transparenz: Kapitalismus kann in größerem Maßstab nur funktionieren, wenn es einen freien Austausch von Informationen gibt. Ohne diese Voraussetzung bilden sich zwar unter Umständen mächtige, profitorientierte Konzerne heraus, die man dann als „kapitalistisch“ titulieren kann, aber es entstehen eben nicht funktionierende Märkte, mit denen allein das System seine spektakuläre Dynamik entfalten kann, die schon Karl Marx bewundert hat.
Auf lange Sicht, zeigt sich hier, ist der Kapitalismus also doch mit der Demokratie verschwistert, wie auch „Zeit“-Herausgeber Josef Joffe in seinem Beitrag herausstellt. Die Sicherung von Eigentumsrechten, überhaupt die Herrschaft des Rechts statt der Willkür und der freie Austausch von Informationen: das sind Bausteine einer demokratischen Gesellschaft. Insofern birgt der Kapitalismus auch die Hoffnung auf ein besseres politisches System. Die Erfahrung lehrt: Wer das Eigentum nicht schützt, schützt auch den Menschen nicht. Deshalb sollten wir unsere demokratische Marktwirtschaft heftig kritisieren, aber nie vergessen: Sie ist das beste Wirtschafts- und Regierungssystem, das die an Verirrungen reiche deutsche Geschichte uns bisher beschert hat.









