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Kolumne: Russische ImpressionenKein Weg zurück: Wie Putin Opfer seiner eigenen Propaganda wurde

Die russische Staatspropaganda hat den Ukrainekrieg ausweglos für Moskau macht. Je stärker die Hetze gegen die Ukraine, desto gefährlicher wird eine Niederlage.Konstantin Goldenzweig 28.04.2022 - 13:39 Uhr Artikel anhören

Der russische Journalist schreibt für das Handelsblatt wöchentlich die Kolumne „Russische Impressionen“.

Foto: Klawe Rzezcy

Es gab in den zwei Monaten seit Beginn des Krieges viele schlimme Tage, aber keinen, an dem Russlands Zynismus offener zu Tage trat. Am Samstagnachmittag kamen beim russischen Raketenangriff auf Odessa fünf Zivilisten, darunter ein drei Monate altes Baby, seine Mutter und Großmutter ums Leben.

Wenige Stunden später erschien der Oberbefehlshaber der russischen Streitkräfte in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale. Wladimir Putin zündete eine Kerze an, bekreuzigte sich und hörte Patriarch Kirill zu. Dieser redete vom „Sieg des Lichtes über die Dunkelheit“. Kein Wort über den Krieg.

Es war der Vorabend des orthodoxen Osterfestes, dem wichtigsten Feiertag für alle Gläubigen Russlands. Nichts sollte ihn verderben. Das Weinen der Hinterbliebenen in Odessa erreichte Moskau sowieso nicht offiziell setzt die russische Armee nur „Hochpräzisionswaffen“ ein, die zivile Opfer vermeiden sollen.

Was kommt nun als Nächstes? Wann wird dieser Albtraum enden? Auf der Suche nach Antworten für die Zukunft könnte man in die jüngste Vergangenheit Russlands blicken, auf den russischen Krieg in Afghanistan. Natürlich gibt es unzählige Unterschiede, doch was die beiden Militäreinsätze eint, sind deren Sinnlosigkeit und Brutalität.

Bereits damals, Anfang der 1980er-Jahre, konnte die kommunistische Propaganda keiner Mutter erklären, was ihren Sohn ins ferne Kabul verschlagen hatte und warum nicht er am Ende nach Hause kam, sondern der „Cargo 200“. Im russischen Militärjargon ist dies noch immer der Name für die Zinksärge, in denen Soldatenleichen zurück in die Heimat gebracht werden.

Selbst staatsnahe Historiker leugnen nicht, dass der Afghanistankrieg den Tod des sowjetischen Regimes beschleunigte. Von 1979 bis 1989 erhielten mindestens 15.000 sowjetische Familien ihren „Cargo 200“. 1991 brach die UdSSR zusammen.

Während in der Ukraine Zivilisten starben, hörte der russische Präsident eine Predigt über den Frieden.

Foto: Reuters

Im Ukrainekrieg soll Russland bislang mehr als 20.000 Soldaten verloren haben. Dies sind Einschätzungen der Regierung in Kiew. Das russische Verteidigungsministerium meldet hingegen seit mehr als einem Monat keine Verluste – offenbar um keine Panik zu verbreiten.

Doch viele Angehörige der Verstorbenen empfinden dieser Tage weder Panik noch Zweifel. Bei der posthumen Verleihung des Ordens „Held Russlands“ an Oberleutnant Wladimir Sosulin in der Region Iwanowo trat seine Mutter mit trauriger, aber selbstbewusster Stimme auf: „Unsere Familie hat die Spezial-Militäroperation von Anfang an befürwortet. Wir wussten, dass unser Sohn daran teilnehmen würde. Wir haben großen Respekt vor Wladimir Putin. Und lass den Westen nicht uns angreifen und gegen uns hetzen. Es wird uns nur mutiger machen.“

Es sind beinahe märchenhafte Vorstellungen über das Gute und Böse, die man in Russland von seinen Mitbürgern hört. Typische Denkmuster: „Warum der Krieg in der Ukraine begann, ist mir zwar nicht klar, aber sicher ist, dass es dort Faschisten gibt.“ Oder: „Wir mussten die Ukraine angreifen, denn die Nato hatte vor, uns anzugreifen.“

Niemand muss Soziologe sein, um zu bemerken, wie irrational diese Äußerungen sind. Genauso klingen aber die Argumente im Fernsehen. Und fast wortwörtlich werden sie von Zuschauern weitergegeben, ohne dass diese über deren Sinn nachdenken.

Stets ein neues Ziel parat

In den zwei Monaten, in denen Russen eine Niederlage nach der anderen erlitten, hat Moskau die offiziellen Ziele der sogenannten Militäroperation immer wieder neu definiert. Mal war die Rede vom Schutz Russlands vor der Nato, mal vom Schutz der Einwohner der Ostukraine vor Kiew. Dann ging es wieder um die Demilitarisierung und „Denazifizierung“ der ganzen Ukraine.

Mitte April zog der russische Außenminister Sergej Lawrow einen Schlussstrich unter all die Erklärungen: Das Ziel sei es nun, die Vorherrschaft der Vereinigten Staaten in der Welt zu beenden. Auch das klang für die Mehrheit des russischen Publikums mehr als überzeugend.

Schon jetzt ist schwer zu sagen, ob die russische Gesellschaft nur Konsument dieser Propaganda oder auch deren „Auftraggeber“ ist. Schließlich wären die staatlichen Medien kaum so populär gewesen, hätten ihr Hass und ihre Verachtung für die Ukraine nicht der Weltanschauung eines Großteils der Russen entsprochen.

Dieser Krieg, diese postsowjetischen Ressentiments und die Sehnsucht nach der Zugehörigkeit zu einer Großmacht lenken viele von ihrem kargen Alltag ab. Wozu die Verantwortung für die eigene Familie oder gar für die Wirtschaft des Landes übernehmen, wenn alles dieser Stunden in der fernen Ukraine entschieden wird? Auch Tausende von Särgen aus der Ukraine beeinflussen die Stimmung wenig.

Russische Erfolge wie in der ukrainischen Hafenstadt sind für Putins Propaganda essenziell.

Foto: AP

Außerdem stammt der Großteil der verstorbenen Soldaten aus bettelarmen russischen Kleinstädten und Dörfern. Tragische Lokalnachrichten gehen selten über die Provinz hinaus. Der Rest des Landes zeigt mit patriotischen Autokorsos, Popkonzerten oder mit dem gehorsamem Schweigen, dass es bereit ist, weiterzukämpfen.

Doch wie soll dieses Ende aussehen? Laut kremlnaher Quellen der russischen Internetzeitung „Meduza“ versteht kaum jemand in Putins Umfeld, auf welche Weise seinen Wählern beigebracht werden soll, dass der Krieg beendet werden soll.

Nach der jahrelangen Hetze gegen die Ukraine im Fernsehen macht sich der Kreml Sorgen: Wie kann diese Volkswut verrauchen, ohne in Enttäuschung mit dem eigenen Staatsoberhaupt umzuschlagen? Was kann man jetzt überhaupt als begehrenswerte Kriegstrophäen dem Land präsentieren? Etwa die ostukrainische Stadt Mariupol? Was wird aber dann mit den anderen, immer noch von Kiew kontrollierten Teilen der selbst ernannten Volksrepubliken?

>>> Lesen Sie hier: Wie Russland seinen Propagandakrieg in Lateinamerika führt

Einerseits hat niemand Antworten auf diese Fragen. Andererseits darf die bereits erschöpfte russische Armee nicht ohne irgendeinen Sieg nach Hause zurückkehren. Kein Sieg würde eine Niederlage bedeuten. In der Wahrnehmung seiner Anhänger kann Präsident Putin keine Niederlagen erleiden.

Schon durch die Art und Weise, wie Moskau Ende Februar den Einmarsch in die Ukraine rechtfertigte, wurde deutlich, dass der Kremlchef – wie viele Diktatoren vor ihm – zum Opfer seiner eigenen Propaganda wurde. Anscheinend war Putin sich sicher gewesen, dass seine Armee aus Dankbarkeit für die Befreiung vom Faschismus mit Blumen und Tänzen in Kiew begrüßt würde.

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Ende April sieht er offenbar keinen würdigen Ausweg aus der Katastrophe. Es wird deutlich, dass der Präsident nicht nur an seine eigene Propaganda glaubt, schlimmer noch: Er gehört ihr ganz und gar an. Denn die Rückkehr zur Realität ist für ihn lebensgefährlich.

Mehr: Reise ins russische Hinterland: Wo Putins Propaganda wirkt

Der russische Journalist Konstantin Goldenzweig schreibt für das Handelsblatt wöchentlich die Kolumne „Russische Impressionen“. Der 39-Jährige war von 2010 bis 2020 für verschiedene russische TV-Sender Korrespondent in Deutschland. Noch vor Kurzem arbeitete er bei Doschd, dem letzten unabhängigen russischen TV-Sender, bis dieser den Betrieb einstellen musste. Im März 2022 floh er aus Moskau, um aus Georgien weiterzuarbeiten – wie viele seiner russischen Kollegen auch.

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