Prüfers Kolumne Warum die Welt der Ameisen der unsrigen überlegen ist

Tillmann Prüfer ist Mitglied der Chefredaktion des „Zeit-Magazins“.
In der „Washington Post“ habe ich einen Artikel über Menschen gelesen, die sich wie Ameisen verhalten. Das tun sie bei Facebook, in einer privaten Gruppe namens „A group where we all pretend to be ants in an ant colony“. Alle Mitglieder dort haben Ameisennamen und tun, was Ameisen so tun. Postet jemand etwa ein Foto einer Familie, die auf einer Picknickdecke sitzt und fragt dazu: „Menschen machen ein Picknick, was sollen wir tun?“, folgen prompt Kommentare der anderen Ameisen – „ESSEN“, „BRINGT ES ZU UNSERER KÖNIGIN“.
Es ist also ein bisschen so, als würden Ameisen Social Media nutzen. Die Gruppe hat fast zwei Millionen Mitglieder, ein ziemlich großer Ameisenhaufen also. Und er wächst stetig. Es ist in der Gruppe verpönt, über Politik, menschliche Probleme oder gar Covid-19 zu reden. Ameisen bauen ihre Kolonie aus, füttern den Nachwuchs, fressen oder beißen. Das ist ein volles Ameisenleben – und das ist auch alles, was sich viele Menschen von sozialen Netzwerken erhoffen.
Man möchte zu einer Gruppe gehören, man möchte anerkannt sein, weil man sich an die Regeln hält und vielleicht sogar etwas Sinnvolles beitragen konnte. Die Welt der Ameisen ist da wesentlich eindeutiger als die Welt der Menschen. Bei den Ameisen gibt es ein klares Gut und Böse, eine eindeutige Mission: Hoch lebe die Königin! Deswegen wollen Menschen Ameisen sein.
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Vielleicht ist es auch eine moderne Form des Eskapismus. Schließlich gehen viele andere Fantasiewelten gerade unter: etwa das Oktoberfest, auf dem man für Stunden in die Identität eines besoffenen Bierdösels in Lederhosen schlüpfen konnte. Und überhaupt alle Verkleidungsfeste, die abgesagt werden, weil sie nicht den Ansprüchen des Social Distancings genügen.
Überhaupt ist die Welt der Ameisen der unsrigen überlegen. An Biomasse übertreffen sie die Menschen bei weitem. Und sie kommunizieren auch besser. Es gäbe viel weniger Missverständnisse, würden wir uns wie Ameisen miteinander verständigen. Außerdem: Sie haben Königshäuser ohne Skandale.
Die Struktur eines Ameisenhügels ist der eines Unternehmens sehr ähnlich
Dabei ist es ein Vorurteil, dass das Leben der Ameisen vor allem von Arbeit und Selbstaufopferung geprägt ist. Entgegen der landläufigen Vorstellung sind die meisten Ameisen gar nicht emsig. Sie hängen vor allem im Bau ab und begreifen sich als Reserve, falls die sehr aktiven Ameisen der Kolonie einmal ausfallen. Damit ist die Struktur eines Ameisenhügels der eines normalen Unternehmens sehr ähnlich.
In anderer Hinsicht ist die Ameisengesellschaft schon heute moderner als die menschliche. Denn es ist eine durch und durch weibliche Gesellschaft. Die Ameisen, die man so sieht, sind fast ausschließlich Arbeiterinnen. Männchen dienen nur dazu, die Königin zu befruchten. Wären wir wirklich wie Ameisen, dann hätten Menschen wie Donald Trump einfach nichts zu sagen. Oder zumindest würde man ihnen nicht zuhören. Nur hin und wieder etwas Beischlaf – ich glaube, damit wären sie auch ganz zufrieden.
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