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Gastbeitrag zur EZBBei der EZB müssten angesichts der Preisdynamik alle Alarmsignale aufleuchten

Die Europäische Zentralbank hat die Inflationsgefahren viel zu lange heruntergespielt. Jetzt muss sie sofort die Negativzins-Ära beenden, meint Jürgen Stark. 12.04.2022 - 09:54 Uhr Artikel anhören

Jürgen Stark war Chefvolkswirt der Europäischen Zentralbank und ist Honorarprofessor der Universität Tübingen.

Foto: © Thomas Dashuber / Agentur Focus

Die seit Einführung des Euros höchste Inflationsrate im Euro-Gebiet war für viele ein Schock. Aber kam der Sprung auf 7,5 Prozent im März wirklich unerwartet? Die Inflationsdynamik war bereits seit Sommer 2021 erkennbar, also schon lange vor der Invasion Russlands in der Ukraine. Bereits damals hätte die Europäische Zentralbank EZB handeln müssen.

Doch sie hat abgewartet in der falschen Annahme, der Inflationsschub sei temporär. Zunächst waren es nur Öl und Gas, die sich dramatisch verteuerten. Inzwischen hat die Preisdynamik deutlich an Breite gewonnen und trifft die privaten Haushalte in voller Härte. Bei der EZB müssten also alle Alarmsignale aufleuchten.

Inflation: EZB verlässt sich weiter auf eigene Projektionen

Denn ein entscheidender Faktor hinter diesem Inflationsschub ist die viel zu lange Phase ihrer extrem expansiven Geldpolitik mit Negativzinsen, Anleiheankaufprogrammen und einer Überschussliquidität von 4,5 Billionen Euro. Obwohl das wirtschaftliche Umfeld wiederholt dafürsprach, hat die EZB jahrelang gezögert, aus dieser Politik auszusteigen.

Jetzt geht es um ihre Kernaufgabe, zu deren Erfüllung sie geschaffen wurde: die Sicherung von Preisniveaustabilität. Und es geht um das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Zentralbank und in den Euro. Bisher war kein überzeugender Kommentar zu hören, wie die EZB mit dieser Situation umgehen will. Immer noch verlässt sie sich auf die Inflationsprojektionen des EZB-Stabs.

Die zeigen einen Rückgang der Inflation auf zwei Prozent zum Ende das Projektionszeitraums an, in Einklang mit dem EZB-Inflationsziel. Also alles doch nur vorübergehend und harmlos? Nicht so ganz, denn auch Präsidentin Lagarde spricht von einer veränderten Inflationsdynamik im Vergleich zur Vor-Corona-Periode. Konsequenzen hatte das bisher nicht.

EZB muss Sorgen der Bevölkerung ernstnehmen

In der Tat sprechen mehrere Faktoren für eine höhere Inflationsrate in der Zukunft. Kurzfristig führt das Zögern der EZB im Vergleich zur US-Notenbank Federal Reserve zu einem Abwertungsdruck auf den Euro. Die Folge sind stärker steigende Importpreise und höhere Inflation.

Auch die Unterbrechung der Lieferketten und hohe Transportkosten werden weiterhin preistreibend wirken. Hinzu kommen strukturelle Faktoren wie die inflationstreibende demografische Entwicklung oder der erkennbare Prozess der Deglobalisierung, der infolge des Ukrainekriegs weiter voranschreiten wird. Das Reshoring, also die Verkürzung oder Rückverlagerung von Produktionsprozessen und -ketten, wird zu höheren Kosten, höherer Inflation und Wohlstandsverlusten in Europa führen.

Dennoch, gemessen an den bisherigen öffentlichen Äußerungen scheint der EZB-Rat die Tragweite der Geldentwertung und die Sorgen der Bevölkerung nicht ernst zu nehmen oder einfach zu ignorieren. Die „Normalisierung“ der Geldpolitik wurde zwar sehr vorsichtig angedeutet mit den Ende März ausgelaufenen Anleihekäufen im Rahmen des PEPP-Programms, die allerdings an anderer Stelle zum Teil kompensiert werden, und mit eventuellen, eher marginalen Zinsänderungen.

Am Donnerstag gibt die Zentralbank ihren weiteren geldpolitischen Kurs bekannt.

Foto: dpa

Die sogenannte „Forward guidance“ gibt dabei die selbst auferlegte Abfolge der Entscheidungen vor: zuerst Rückführung der Anleihekäufe, dann Zinserhöhungen. Die avisierten Schritte sind jedoch in der Reihenfolge, der Geschwindigkeit und dem Umfang nach völlig unzureichend, um die Inflationsdynamik zu bremsen, geschweige denn zu stoppen. Je länger die Preisdynamik anhält und an Breite gewinnt, desto mehr verfestigt sie sich und wird in höheren Inflationserwartungen sichtbar.

Die werden dann unweigerlich auf Löhne und Gehälter durchschlagen. Denn die Gewerkschaften werden angesichts der aktuellen und erwarteten Preisentwicklung sowie des Stillhaltens der EZB ihre Mitglieder nicht mit dem Argument beruhigen können, es handele sich um ein vorübergehendes Phänomen. Wenn die EZB nicht rasch und entschieden handelt, wird das in eine Lohn-Preisspirale einmünden, die nur noch mit brutalen Eingriffen zu stoppen sein wird.

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Diese Gefahr wird von der EZB völlig unterschätzt. Sollten sich Zweitrundeneffekte zeigen und höhere Löhne der hohen Inflation folgen, so ihre Erklärung, werde das nur einen Einmaleffekt haben. Diese Argumentation ist völlig realitätsfern.

Denn übermäßige Lohnsteigerungen sind nicht das Ende eines Prozesses, sondern führen zu neuer Inflationsdynamik. Höhere Löhne bedeuten höhere Produktionskosten, die über höhere Preise an die Verbraucher weitergegeben werden und damit zu noch höherer Inflation führen. Wir befinden uns dann in einer sich selbst verstärkenden Lohn-Preisspirale.

Die neue Inflationsdynamik, die aus den vorgenannten Gründen nicht rasch erlahmen wird, erfordert eine scharfe Politikkorrektur. Die EZB darf wegen der dramatischen geopolitischen Lage nicht erstarren. Sie darf jetzt nicht selbst zu einem zusätzlichen Risikofaktor werden und ihren Auftrag vernachlässigen.

Sie muss jetzt ihrem Mandat gerecht werden und so handeln, wie sie in den Krisen handelte: rasch und entschlossen. Eine Kehrtwende ist nötig, so wie sie auch aus anderen Gründen in der Politik vollzogen wird.

Kommunikation der EZB allein reicht nicht

Warum handelt sie jetzt nicht rasch und entschlossen, wenn es um ihren Kernauftrag geht? Im Krisenmanagement der vergangenen Jahre ist sie in unbekanntes Gelände vorgestoßen. Sie hat die Zinsen immer weiter gesenkt und neue Ankaufprogramme für Staatsanleihen aufgelegt.

Sie hat auch gehandelt, als sie eine auf falscher Diagnose beruhende Deflation befürchtete. In Wirklichkeit diente die darauf begründete Politik nicht der Sicherung der Preisstabilität, sondern anderen Zielen. Die Finanzierungskosten der Euro Staaten sollten niedrig gehalten und die Risikoprämien auf Staatsanleihen weitgehend eingeebnet, der Markt sollte also ausgeschaltet werden. Verbrämt wurde das durch das Argument, die „Fragmentierung“ der Anleihemärkte im Euro-Raum zu vermeiden.

>>> Lesen Sie auch: Bundesbank-Präsident: Zinsen könnten schon bald steigen

Die EZB droht ihren asymmetrischen Ansatz fortzusetzen, bei sich abschwächender Konjunktur aggressiv die Zinsen zu senken, aber bei steigender Inflation eine ruhige Hand zu behalten. Sie ist jetzt gefordert, sowohl kommunikativ als auch operativ. Sie muss deutlich machen, dass sie ihrem Ziel absolute Priorität einräumt, Preisstabilität zu gewährleisten, so wie es das europäische Vertragswerk verlangt – ohne Wenn und Aber! Doch Kommunikation allein reicht nicht. Wichtig ist, dass der EZB-Rat endlich tätig wird und glaubwürdig mit operativen Entscheidungen beweist, dass er hohe Inflationsraten nicht duldet.

Inflation: EZB-Rat muss Leitzinsen anheben

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Der Rat muss sich von den in der Vergangenheit selbst angelegten Fesseln befreien. Konkret: Die Leitzinsen müssen sofort aus dem Negativ- und Nullbereich herausgeführt und danach deutlich erhöht werden. Und die Anleihekäufe sind einzustellen – bereits in diesem Sommer. Auch wenn solche politischen Entscheidungen erst mittelfristig wirken, ist ein derartiges Signal ein kritisches Momentum, um die Entschlossenheit des EZB-Rats zur Kehrtwende zu demonstrieren und der Inflationsdynamik entschieden entgegenzuwirken.

Das hätte bereits geschehen können, gegebenenfalls in einer Sitzung des EZB-Rates außerhalb des üblichen Tagungsrhythmus. Das hätte ohne Zweifel geholfen, den Verlust des Vertrauens in die EZB und die Stabilität des Euros zu begrenzen. Jetzt müssen in der kommenden EZB-Ratssitzung die Signale und die Entscheidungen umso deutlicher ausfallen.

Mehr dazu: EZB-Protokolle: Währungshüter fürchten Stagflation.

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