1. Startseite
  2. Meinung
  3. Kolumnen
  4. Der Chefökonom: Das Stabilitätsgesetz – ehrwürdig, aber überflüssig

Der ChefökonomDas Stabilitätsgesetz – ehrwürdig, aber überflüssig

Das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz hat fast sechs Dekaden ohne Reformen überstanden – weil es bedeutungslos geworden ist. Zeitgemäße Politik bräuchte ein neues magisches Viereck.Bert Rürup 29.11.2024 - 04:07 Uhr Artikel anhören
Braunkohlekraftwerk, Windräder: Energiesicherheit ist eines der vorrangigen Ziele der Bundesregierung. Foto: dpa

Düsseldorf. Zu Beginn dieses Jahres waren in Deutschland 1792 Gesetze rechtskräftig. Selbst exzellente Juristen dürften große Schwierigkeiten haben, auch nur einen Bruchteil der insgesamt 52.155 Einzelnormen zu kennen, ganz zu schweigen von Bürgern und Unternehmen – zumal es noch 2.854 Rechtsverordnungen des Bundes gab, die wiederum aus 44.272 Einzelnormen bestanden. Allein in der laufenden Wahlperiode wurden bis Ende August dieses Jahres 551 Gesetzesvorhaben beim Bundestag oder Bundesrat eingereicht.

Nur selten dagegen werden Gesetze abgeschafft, die aufgrund veränderter Rahmenbedingungen obsolet geworden sind. So wurde beispielsweise das vom Bundesverfassungsgericht suspendierte Vermögensteuergesetz nicht etwa abgeschafft – es ist seit 1997 lediglich ausgesetzt.

Interview

Roland-Berger-Chef über die Krise: „Deutschland ist ein Restrukturierungsfall“

Geradezu ein Kuriosum ist es, dass das Herzstück der vom damaligen Wirtschaftsminister Karl Schiller (SPD) geprägten antizyklischen Stabilisierungspolitik der späten 1960er-Jahre, das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz, nahezu unverändert allen wirtschafts- und finanzpolitischen Stürmen der vergangenen beinahe sechs Dekaden standgehalten hat: dem Zusammenbruch des Bretton-Woods-Festkurssystems, den Ölkrisen der 1970er-Jahre sowie dem sich daran anschließenden rasanten Anstieg der Staatsverschuldung, der deutschen Einheit, der Einführung des Euros, der globalen Finanzkrise, der Coronapandemie und, und, und.

Das „Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft“ wurde am 8. Juni 1967 von der ersten Großen Koalition, der zweifellos bisher tatkräftigsten und erfolgreichsten Bundesregierung, verabschiedet. Nach den Wirtschaftswunderjahren erlebte die deutsche Volkswirtschaft 1966/67 ihre erste Schwächephase – blendet man den kurzen Wirtschaftseinbruch unmittelbar nach der Währungsreform 1948 aus.

Die gesamtwirtschaftliche Leistung schrumpfte um 0,2 Prozent. Mit dem Anstieg der Arbeitslosenquote von 0,7 auf 2,1 Prozent, gepaart mit der Ablehnung konjunkturstabilisierender Maßnahmen durch Bundeskanzler Ludwig Ehrhard, wuchs die Unzufriedenheit in der Bevölkerung mit der von Union und FDP getragenen Bundesregierung - die schließlich abgewählt wurde.

Wie groß ist die wirtschaftspolitische Gestaltungsmacht des Staates?

Die Wirtschafts- und Finanzpolitik der folgenden ersten Großen Koalition wurde geprägt vom Ökonomieprofessor und Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller (SPD). Seine Vorstellungen basierten auf den vom britischen Ökonom John M. Keynes entwickelten Ideen.

Demnach sei der Staat durch eine Globalsteuerung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage in der Lage, konjunkturelle Schwankungen auszugleichen und somit gesamtwirtschaftliche Stabilität zu gewährleisten. Mit dem Stabilitätsgesetz wurde dieses vielen deutschen Ökonomen und Politikern kriegsbedingt lange vorenthaltene ökonomische Gedankengut in ein Gesetz gegossen. Die Ära einer konjunkturpolitischen Abstinenz war damit beendet.

Karl Schiller: Der damalige Bundeswirtschaftsminister war federführend an der Entstehung des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes beteiligt. Foto: imago images/Rainer Unkel

Das Stabilitätsgesetz nennt als wirtschaftspolitisches Staatsziel das „gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht“ und konkretisierte dies als „magisches Viereck“. Danach sollte bei der Aufstellung der öffentlichen Haushalte beachtet werden, dass Preisniveaustabilität, ein hoher Beschäftigungsgrad, ein außenwirtschaftliches Gleichgewicht sowie ein stetiges und angemessenes Wirtschaftswachstum erreicht und gewährleistet werden.

Nun hat der Glaube an die wirtschaftspolitische Gestaltungsmacht des Staates in den 1970er- und 1980er-Jahren merklich gelitten, und die Staatsverschuldung in Relation zum Bruttoinlandsprodukt stieg in Deutschland von 18 Prozent im Jahr 1970 auf 41 Prozent im Jahr 1990 – aus heutiger Sicht höchst solide Quoten.

Ausgehend von den USA und Großbritannien wurden die bereits 1976 vom Sachverständigenrat propagierten und maßgeblich vom US-Ökonomen Milton Friedman entwickelten marktliberalen Ideen mehrheitsfähig. Liberalisierungen und Privatisierungen waren en vogue – doch ungeachtet dieser ideologischen Wende blieb das Stabilitätsgesetz unangetastet.

Neue Wirtschaftspolitik braucht neue Ziele

Heute stellt sich allerdings die Frage, wie die deutsche Politik die Geldwertstabilität sicherstellen soll, obwohl die Bundesrepublik Mitglied der Euro-Zone ist und eine Europäische Zentralbank über dieses Ziel wacht. Überdies stellt sich die Frage, ob und wie eine Bundesregierung das Ziel eines außenwirtschaftlichen Gleichgewichts verfolgen könnte und sollte, wenn deutsche Unternehmen Güter im Wert von etwa 250 Milliarden Euro mehr exportieren, als sie importieren. Auf- oder Abwertungen liegen ebenso wenig in den Händen der Bundesregierung wie die Senkung oder Anhebung von Zöllen, um Importe zu stimulieren oder zu dämpfen. Eine Verletzung des Stabilitätsgesetzes ist also programmiert.

Gebäude der EZB in Frankfurt am Main: Geldwertstabilität liegt in den Händen der Europäischen Zentralbank. Foto: Moment/Getty Images

Überdies hängt es vom individuellen Standpunkt des Betrachters ab, welcher Beschäftigungsgrad „hoch“ und welches Wirtschaftswachstum „angemessen“ ist. Vermutlich hätte Karl Schiller seinerzeit eine Arbeitslosenquote von um die sechs Prozent und ein Wirtschaftswachstum von um die null Prozent – die heutige Realität –  als höchst unangemessen angesehen.

Fakt ist: Die politische Bedeutung des Stabilitätsgesetzes ist heute gleich null. Es sollte daher ersatzlos abgeschafft werden.

Wachstumsschwache Phase schöpferischer Zerstörung

Ungeachtet dessen wäre es wünschenswert, wenn jede Bundesregierung zu Beginn einer Legislaturperiode die in ihrer Verantwortung liegenden Wirtschaftsziele definieren würde. Die zwischenzeitlich nahezu 200 Seiten langen Koalitionsverträge lesen sich wie Wunschlisten. Aber sie versperren nicht selten den Blick auf das Wesentliche, da es offensichtlich an Mut fehlt, die Fülle von erstrebenswerten Maßnahmen zu priorisieren.

» Lesen Sie auch: Acht Grafiken erklären, warum die Deutschen sparen, obwohl sie mehr Geld haben

Die deutsche Volkswirtschaft steht am Beginn einer wachstumsschwachen Phase der „schöpferischen Zerstörung“, einem Strukturwandel, der Innovationen fordert wie befördert und gleichermaßen neue Perspektiven schaffen sowie alte vernichten wird. Ließe sich die Wirtschaftspolitik des 21. Jahrhunderts mehr von diesen vom Jahrhundertökonomen Joseph Schumpeter entwickelten Ideen leiten, könnte die deutsche Volkswirtschaft nach einer Transformationsphase zu neuer Stärke finden.

Munitionsfertigung bei Rheinmetall: Finanzierung der inneren und äußeren Sicherheit ist nicht gewährleistet. Foto: Philipp Schulze/dpa

Dazu braucht es allerdings einen ökonomischen Masterplan, wie trotz der Alterung der Gesellschaft auch in Zukunft nachhaltiges Wirtschaftswachstum generiert werden kann, aus dem die Dekarbonisierung der Volkswirtschaft, die Modernisierung der Infrastruktur, die Renten-, Pflege- und Gesundheitsleistungen sowie die Gewährleistung der inneren und äußeren Sicherheit nachhaltig finanziert werden können.

Verwandte Themen Wirtschaftspolitik Deutschland Konjunktur EZB SPD Rheinmetall

Die Wirtschaftspolitik sollte den Mut aufbringen, ein neues zeitgemäßes magisches Viereck zu formulieren und zu kodifizieren. Dieses Viereck müsste ein Gleichgewicht ausbalancieren zwischen einer technologieoffenen Klimapolitik, einer pragmatischen Wachstumspolitik, zielgenauen sozialpolitischen Leistungen sowie nachhaltig soliden Staatsfinanzen, die eine Reform der in der Sache richtigen, aber fehlkonstruierten Schuldenbremse voraussetzen.

Dazu bedarf es keines Gesetzes. Es reicht der politische Wille.

Mehr: China, USA und die 27 Zwerge – Diese sieben Grafiken zeigen Europas Abstieg

Mehr zum Thema
Unsere Partner
Anzeige
remind.me
Jetziges Strom-/Gaspreistief nutzen, bevor die Preise wieder steigen
Anzeige
Homeday
Immobilienbewertung von Homeday - kostenlos, unverbindlich & schnell
Anzeige
IT Boltwise
Fachmagazin in Deutschland mit Fokus auf Künstliche Intelligenz und Robotik
Anzeige
Presseportal
Direkt hier lesen!
Anzeige
STELLENMARKT
Mit unserem Karriere-Portal den Traumjob finden
Anzeige
Expertentesten.de
Produktvergleich - schnell zum besten Produkt