Geoeconomics: Deutschland muss sich vom Bild des „Exportweltmeisters“ verabschieden
Noch nie seit 1949 hat es eine neue Bundesregierung mit so großen außenpolitischen Herausforderungen zu tun gehabt. Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine hat die Deutschen bereits gezwungen, sich von zwei Grundüberzeugungen zu verabschieden, die identitätsstiftend waren: von der Gewissheit, dass kein Land in Europa je wieder einen revisionistischen Angriffskrieg gegen ein Nachbarland führen wird. Und von der Vorstellung, dass die enge wirtschaftliche Verflechtung mit Autokratien wie Russland oder China durch die wechselseitigen Abhängigkeiten für Deutschland segensreich ist.
Seit Donald Trump wieder im Weißen Haus regiert, ist klar, dass auch eine dritte Grundüberzeugung den Kontakt mit der Wirklichkeit nicht überlebt: Die Bundesrepublik hat sich seit ihrer Gründung als engster Partner der Vereinigten Staaten verstanden, mit denen sie Werte und Interessen teilt wie mit keinem anderen Land – zumindest außerhalb Europas. Die USA galten als Schutzmacht, die die Stabilität des internationalen Systems garantiert, von dem die Deutschen enorm profitieren.
Dies ist nun obsolet. Die Trump-Regierung hat ein grundsätzlich anderes Verständnis von Allianzen als jede andere amerikanische Regierung der Nachkriegszeit. Alliierte gelten nicht als Mehrwert, sondern bestenfalls als Ballast – und schlimmstenfalls als Gegner.
Dazu kommt, dass sich Amerika nicht mehr als Schutzmacht der regelbasierten Ordnung begreift, sondern als deren Abrissbirne. Bereits die erste Zeitenwende war ein Stresstest für die Deutschen, bei dem bis heute unklar ist, ob sie ihn bestehen. Nach Trumps Wahlsieg sind wir nun mit einer zweiten Zeitenwende konfrontiert, die unsere Welt erneut aus den Angeln hebt.
Die sich daraus ergebenden Herausforderungen sind umfassend: Russland und die USA sind bestrebt, die Ukraine in einen Diktatfrieden zu drängen. Wenn der Krieg eingefroren wird, ohne Kiew in die Lage zu versetzen, Russland von weiteren Angriffen abzuschrecken, droht die Ukraine zu einem gescheiterten Staat zu werden, gegen den der westliche Balkan als stabiles demokratisches Paradies erscheint.
Putins Forderungen an die Nato und die Biden-Administration aus dem Dezember 2021 lassen zudem keinen Zweifel daran, dass es ihm darum geht, eine russische Einflusszone zu errichten, die bis weit in das östliche Nato-Territorium reicht. Er will die USA aus Europa weitgehend hinausdrängen, um der unangefochtene Hegemon zu sein – mit nuklearem Erpressungspotenzial.
Anders als Joe Biden könnte Trump geneigt sein, viele der russischen Forderungen zu erfüllen, weil sie ihm entgegenkommen. Auch Trump will die amerikanische Truppenpräsenz in Europa reduzieren und militärische Fähigkeiten abziehen. Seine Priorität ist ein Neustart der amerikanisch-russischen Beziehungen, nicht der Schutz der Ukraine oder Resteuropas.
Friedrich Merz hat deshalb recht, wenn er sagt, dass Deutschland und Europa in hohem Tempo unabhängig(er) von den USA werden müssen. Eine umfangreiche Stärkung der Bundeswehr wie auch der zivilen Verteidigung und die konstruktive Zusammenarbeit mit europäischen Partnern im Bereich Sicherheit und Verteidigung sollten oberste Priorität der neuen Bundesregierung sein.
Doch damit nicht genug. US-Vizepräsident J. D. Vance hat jüngst suggeriert, man könne von US-Soldaten nicht erwarten, Deutschland zu verteidigen, wenn dort gleichzeitig Menschen für eine Äußerung auf Social Media ins Gefängnis wandern würden. Damit macht er deutlich, dass die Trump-Administration nicht davor zurückschrecken wird, auch innenpolitisch Druck auf Europa auszuüben und innen- und außenpolitische Forderungen miteinander zu verknüpfen.
Die Bundesrepublik wird auch ein neues Wirtschaftsmodell entwickeln müssen, das in einer Welt zunehmender Fragmentierung und Rivalität zwischen Großmächten, die Abhängigkeit als Waffe einsetzen, wieder Wohlstand schafft. Die neue Bundesregierung kann nicht darauf hoffen, dass sich die Uhr zurückdrehen lässt und wir ein neues goldenes Zeitalter der Globalisierung erleben.
Stattdessen muss sich Deutschland vom Bild des „Exportweltmeisters“ verabschieden und stärker auf eine Vertiefung des europäischen Binnenmarktes setzen. Überhaupt ist mehr europäische Kooperation in dieser Situation Deutschlands beste Alternative. Wenn das im Geleitzug mit 27 nicht möglich ist, sollte eine neue Bundesregierung sich offen zeigen für Kooperationen in kleineren Formaten – und sich mehr als in den vergangenen drei Jahren an die Spitze solcher Initiativen setzen.