Europa-Kolumne: Die Atomkraft wird zurückkommen – ob Deutschland das will oder nicht

Eva Fischer, Korrespondentin im Handelsblatt-Büro in Brüssel, analysiert Trends und Konflikte, Regulierungsvorhaben und Strategiekonzepte aus dem Innenleben der EU. Denn wer sich für Wirtschaft interessiert, muss wissen, was in Brüssel läuft. Sie erreichen sie unter e.fischer@handelsblatt.com.
Vielleicht werden Historiker die Wende auf das Jahr 2019 datieren: das Jahr, in dem Ursula von der Leyen ankündigte, die Europäische Union solle bis 2050 klimaneutral sein. Damit entbrannte ein Streit erneut, der längst überwunden zu sein schien: Sollen wir das Klima mit Atomenergie retten? Und wenn ja: Sollte es EU-Fördergelder für den Bau von Atomkraftwerken und für Forschung in diesem Bereich geben?
Die beiden mächtigen Staaten innerhalb der Union sind da unterschiedlicher Meinung: Frankreich sagt Ja, Deutschland Nein.
2019 waren die Pro- und Anti-Atomkraft-Lager in der EU noch ausgeglichen: Konkret galt ein Drittel der Mitgliedstaaten als Befürworter der Atomkraft, ein Drittel war dagegen, und ein Drittel hatte sich noch nicht positioniert. Doch mittlerweile erklären sich immer mehr EU-Länder offen für neue Investitionen in diesem Bereich. Schließlich wird bei der Erzeugung von Atomstrom kein CO2 ausgestoßen.
Mitte Oktober veröffentlichten zehn Mitgliedstaaten unter der Federführung von Frankreich eine Pro-Atomkraft-Erklärung. Mit dabei waren Finnland, die Visegrad-Staaten Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei, außerdem Slowenien und Kroatien sowie Rumänien und Bulgarien.
Bei diesen Ländern wird es nicht bleiben: In den Niederlanden gibt es Überlegungen, weitere Atomkraftwerke zu bauen. Estland plant zum ersten Mal in seiner Geschichte den Bau eines Kernkraftwerks – dabei galten die Balten bislang als Atomkraft-skeptisch.
Somit sieht es immer mehr danach aus, als würde Frankreich den Kampf peu à peu für sich entscheiden. Der Blick über die EU hinaus zeigt den gleichen Trend: Die USA, Kanada, Großbritannien, Japan und Südkorea haben sich ebenfalls das Ziel gesetzt, bis 2050 klimaneutral zu sein. China, Russland und Saudi-Arabien wollen das bis 2060 schaffen. All diese Länder setzen dabei neben erneuerbaren Energien auf Atomkraft.
Die meisten wollen weitere Kraftwerke bauen, Südkorea will seinen Atomausstieg hinauszögern. Und damit hat längst auch ein technologisches Wettrennen um die Kernenergie der Zukunft begonnen. China arbeitet daran, auch in dem Bereich die Weltmarktführerschaft zu übernehmen – und ist bereits fleißig dabei, seine Kernenergie-Technologie zu exportieren.

Bei neuen Technologien sollen Kernschmelzen nicht mehr möglich sein.
In der Tat gibt es gegen Atomkraft viele und bedeutende Argumente. Am gravierendsten sind das Sicherheits- und das Müllproblem. Berechnungen des Max-Planck-Instituts für Chemie zufolge kommt es statistisch gesehen alle zehn bis 20 Jahre zu einem Reaktorunfall. Je mehr Atomkraftwerke es auf der Welt gibt, desto geringer wird diese Zeitspanne. Zudem gibt es bislang kein passendes Endlager für Atommüll.
Einzig in Finnland wird derzeit eines gebaut – auf einer entlegenen Insel. Schweden hat einen passenden Standort gefunden, zögert jedoch noch, mit dem Bau loszulegen.
Deutschland hat sich zum Ziel gesetzt, bis 2038 einen geeigneten Ort zu finden und dort von 2050 an seinen Atommüll zu vergraben. Es gibt allerdings auch Stimmen, die diesen Zeitplan für unrealistisch halten und vermuten, dass sich die Suche noch bis ins 22. Jahrhundert ziehen wird.
Beide Probleme sind übrigens der Grund dafür, dass Atomkraft ohne staatliche Hilfe gar nicht wirtschaftlich rentabel wäre. Es gibt kein Versicherungsunternehmen, das bereit ist, Atomkraftwerke komplett gegen Reaktorunfälle zu versichern. Den Atommüll loszuwerden ist Sache des Staates – müssten das die Energieunternehmen selbst bezahlen und würden die Kosten somit auf Verbraucher umlegen, wäre Atomstrom unbezahlbar.
Jedoch wird für Atomstrom Uran benötigt – und dafür ist Russland wiederum einer der Hauptlieferanten. Zudem entsteht beim Uranabbau CO2, er geht mit Umweltverschmutzung und Gesundheitsgefährdung für die Minenarbeiter einher.
Apropos Russland: Europas Atommüll wurde in das Riesenreich exportiert. Es gibt Vermutungen, dass er dort nicht ausreichend geschützt gelagert ist.
Kraftwerke der nächsten Generation hebeln die Argumente aus



Doch die technologische Entwicklung ist dabei, diese Argumente zu entkräften. Bei den Kraftwerken der nächsten Generation sollen Kernschmelzen nicht mehr möglich sein, außerdem soll weniger Atommüll anfallen und vorhandener radioaktiver Abfall energetisch wiederverwertet werden. Die militärische Zweckentfremdung, auch das ein Argument der Kernkraft-Gegner, soll nicht mehr möglich sein.
Das liegt noch alles in der Zukunft und ist kein Grund, konventionelle Atomkraftwerke anstelle von Windkrafträdern oder Solarparks zu bauen. Es zeigt allerdings: Die Big Player der Welt haben sich erneut für Atomkraft entschieden. Deutschland sollte diese Debatte aufmerksam verfolgen – und sich zumindest mit der Technologie der neuen Meiler beschäftigen. Zu groß wäre sonst das Risiko, hier eine strategisch wichtige technologische Entwicklung zu verpassen – zum Nachteil Europas.





