EU-Kolumne: Deutschland hat die Zeitenwende angekündigt, Japan setzt sie um

Während Deutschland die Zeitenwende ausgerufen hat, setzt Japan die Abgrenzung von China bereits seit Jahren um.
13 Stunden hin, 13 Stunden zurück: Beim Kurztrip der Bundesregierung nach Tokio gab es für die Koalitionäre vor zwei Wochen viel Zeit zum Reden – und einen Blick über das alltägliche Hickhack in Berlin hinaus zu wagen.
Das Reiseziel Japan war schließlich nicht zufällig gewählt. Die Japaner machen vor, wie Zeitenwende geht.
Das Land hat seine pazifistische Grundhaltung angepasst und das Verteidigungsbudget für 2023 um 26 Prozent erhöht. Gleichzeitig versucht es, sich aus der ökonomischen Umklammerung Chinas zu lösen, zumindest in strategisch wichtigen Bereichen.
Japans Premierminister Fumio Kishida hat ein Ministerium für „Wirtschaftssicherheit“ eingerichtet, das systematisch Lieferketten analysiert. Bei der Versorgung mit Rohstoffen, Mikrochips, Medikamenten oder Lebensmitteln will Japan nicht mehr erpressbar sein. Ein Vorbild für Berlin und Brüssel?
Die Parallelen sind auffällig. Lange hat Japan vom Wachstum Chinas stark profitiert. Die Volksrepublik ist Markt und Produktionsstandort für japanische Unternehmen, zugleich ist sie Quelle wichtiger Ressourcen und Produkte. Diese Abhängigkeiten teilt Japan mit Deutschland und Europa. Der Unterschied ist, dass Japan ein strategisches Konzept verfolgt, um sie zu überwinden.
Japan will G7 auf „Wirtschaftssicherheit“ trimmen
Nach einem Fischereidisput schnitt China Japan 2010 von der Versorgung mit seltenen Erden ab, die für die Herstellung von Hightech-Gütern unverzichtbar sind. Es war ein Weckruf für die japanische Regierung, die seither ihre Verwundbarkeit Schritt um Schritt verringert. Die G7-Präsidentschaft, die Japan in diesem Jahr von Deutschland übernahm, will Tokio nutzen, um die führenden demokratischen Wirtschaftsnationen auf das Konzept der „Wirtschaftssicherheit“ einzuschwören.
>> Lesen Sie auch: Comeback der Kommandowirtschaft? Von der Leyen richtet europäische Wirtschaftspolitik neu aus
Bundeskanzler Olaf Scholz scheint sich besonders für Japan zu interessieren. Schon zwei Mal reiste er in seiner bisher kurzen Kanzlerschaft an. Er spricht davon, die wirtschaftliche „Widerstandskraft“ Deutschlands stärken zu wollen und die Handelsbeziehungen zu „diversifizieren“, was nichts anderes bedeutet, als die Abhängigkeiten von China abzubauen.
Nur: Eine besondere Dringlichkeit scheint man dabei im Kanzleramt nicht zu verspüren. Die Neujustierung soll graduell erfolgen, um die wirtschaftlichen Folgen so gering wie möglich zu halten.

Der Autor: Jede Woche analysiert Moritz Koch, Leiter des Handelsblatt-Büros in Brüssel, im Wechsel mit anderen Brüsseler Korrespondenten in der EU-Kolumne Trends und Konflikte, Regulierungsvorhaben und Strategiekonzepte aus dem Innenleben der Europäischen Union. Denn wer sich für Wirtschaft interessiert, muss wissen, was in Brüssel läuft. Sie erreichen ihn unter: koch@handelsblatt.com
Zeitspiel bei der Zeitenwende – so macht Scholz Politik. Auch der Begriff der Wirtschaftssicherheit ist im Kanzleramt umstritten. Selbst nach der dramatischen Erfahrung des Ukrainekriegs und der russischen Versuche, Deutschland mit einem Gasembargo in einen Versorgungsnotstand zu stürzen, sind die Beharrungskräfte groß. Die Zeitenwende stößt an ihre Grenzen, wo sie mit ökonomischen Interessen kollidiert.
Der entscheidende Impuls kommt jetzt aus Brüssel. EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen hat vergangene Woche eine „Strategie zur Wirtschaftssicherheit“ angekündigt. Sie umfasst die Stabilität von Lieferketten und Handelsrouten, den Schutz kritischer Infrastruktur und die Kontrolle von Zukunftstechnologien durch Beschränkungen von Exporten und Investitionen.



Wirtschaft und Sicherheit sind keine getrennten Sphären, das hat die EU-Kommission inzwischen begriffen. Wenn diese Erkenntnis während der vielen Stunden im Regierungsflieger auch im Bundeskabinett gereift ist, wäre viel gewonnen.
Mehr: Von der Leyen will europäische Investitionen in China beschränken





