EU-Kolumne: Risikofaktor China – Deutschland ist schwächstes Glied Europas


In Brüssel gilt Scholz als größter Bremser bei der Abgrenzungsstrategie von China.
Man kennt solche Situationen vom Sport: Ein Team versucht, sich über die Zeit zu retten, es verzögert den Spielaufbau, stellt die Initiative ein. Am Ende rächt sich das fast immer. Im Fußball, im Eishockey – und in der internationalen Politik.
Aus dem Energiekonflikt mit Russland hat die EU die Lehre gezogen, ihre Abhängigkeiten von „unzuverlässigen“ Staaten zu verringern. Die Entkopplung vom russischen Gas und Öl ist weitgehend vollzogen.
Die nächste, noch größere Herausforderung ist der Umgang mit China, das Russland beim Angriff auf die Ukraine – und die europäische Friedensordnung – politisch wie ökonomisch unterstützt.
Das Modell der Entkopplung taugt hier nicht. Der Handel bringt China und Europa großen Nutzen, schafft Wohlstand, sichert Arbeitsplätze. Niemand will ihn grundsätzlich infrage stellen. In der Chinapolitik geht es um selektivere Eingriffe, um Risikominderung in einzelnen, kritischen Bereichen – mit dem Ziel, wirtschaftlicher Nötigung vorzubeugen.
Das kann bedeuten, Solarzellen und Batterien in größeren Mengen selbst zu fertigen, Rohstoffe stärker aus Afrika oder Lateinamerika zu importieren, die eigene kritische Infrastruktur besser zu schützen und den Abfluss von Technologie wie der Chipherstellung zu verhindern.
Vorgetäuschter Konsens
„Derisking“ lautet das Konzept, das Kommissionschefin Ursula von der Leyen Ende März vorgeschlagen hat und für das sie viel Zustimmung erhält. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz verwendet den Begriff seither. Doch er gaukelt einen Konsens vor, den es nicht gibt – und strapaziert damit die Geduld der übrigen Europäer. Ohne deutsche Führungsbereitschaft, das ist allen in Brüssel klar, kann die Strategie des Deriskings nicht gelingen.
Weil die einzelnen EU-Staaten über den europäischen Binnenmarkt eng miteinander verwachsen sind, ist Europas Wirtschaft nur so widerstandsstark wie ihr schwächstes Glied. Und dieses schwächste Glied ist Deutschland. Die Abhängigkeiten der Bundesrepublik schränken den Handlungsspielraum aller EU-Mitglieder ein.
>> Lesen Sie hier: Wie EU und USA ihren Technologie-Vorsprung gegen China halten wollen
Kein anderes Land hat sich mutwillig in eine so starke Energieabhängigkeit von Russland begeben wie Deutschland. Und kein anderes Land hat es seinen Großkonzernen erlaubt, sich so eng mit China zu verbinden.
Die Aufgabe eines Kanzlers, der die Zeitenwende ausgerufen hat, kann sich nicht darin erschöpfen, ein Sondervermögen für die Bundeswehr auszuloben. Deutschland muss Europa auch ökonomisch resilienter machen.
Die halbe Zeitenwende
Doch was tut Scholz? Er spielt auf Zeit, überlässt die Initiative anderen. Unter Derisking versteht er eine allmähliche Diversifizierung, keine aktive politische Lenkung: Neue Handelsabkommen sollen Märkte jenseits von China erschließen und so nach und nach das Klumpenrisiko der deutschen Konzerne abtragen.
Dabei ist klar, dass das nicht reicht. Beim Derisking kommt es aufs Tempo an. Peking baut seine Partnerschaft mit Moskau aus und bedroht Taiwan. Es braucht ökonomische Abschreckung. Doch die EU kann nicht glaubwürdig mit Sanktionen drohen, solange die größte europäische Volkswirtschaft erpressbar ist.

Der Autor: Jede Woche analysiert Moritz Koch, Leiter des Handelsblatt-Büros in Brüssel, im Wechsel mit anderen Brüsseler Korrespondenten in der EU-Kolumne Trends und Konflikte, Regulierungsvorhaben und Strategiekonzepte aus dem Innenleben der Europäischen Union. Denn wer sich für Wirtschaft interessiert, muss wissen, was in Brüssel läuft. Sie erreichen ihn unter: koch@handelsblatt.com
Deutschland hat es zugelassen, dass ein Teil der nationalen kritischen Infrastruktur von China ausgerüstet wird. Ohne die Komponenten und die Software des chinesischen IT-Champions Huawei würde der deutsche Mobilfunk zusammenbrechen. Innenministerin Nancy Faeser hat das Risiko erkannt, ihr Ressort dringt darauf, Huawei aus kritischen Netzbereichen zu verbannen.
Doch der Kanzler stärkt ihr nicht den Rücken, er doziert über einen „bürokratischen Prozess“ – so wie er die deutsch-russische Ostseepipeline Nord Stream 2 noch als „privatwirtschaftliches Vorhaben“ verharmloste, während die russische Invasionsarmee die Ukraine schon umstellt hatte.
Die EU-Kommission hält ihren Frust kaum noch zurück. „Während wir hier sprechen, steigen die Marktanteile nicht vertrauenswürdiger Anbieter“, klagte Margrethe Vestager, Vizechefin der Brüsseler Behörde, kürzlich. Gemeint waren chinesische Tech-Lieferanten – und Deutschland, dessen Kanzler offenbar der Ansicht ist, dass eine halbe Zeitenwende reicht.




Mehr: Die unsichtbare Hand des Staates – Wie Deutschlands „Deep State“ die Zeitenwende bremst
Erstpublikation: 30.05.2023, 04:00 Uhr.





