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GeoeconomicsMerz und Macron müssen die Rolle des Staates neu bewerten

Deutschland und Frankreich sind eng verflochten und stellen fast die Hälfte der Wirtschaftskraft der Euro-Zone. Es gibt aber zu viele ideologische Differenzen, meint Daniela Schwarzer.Daniela Schwarzer 22.07.2025 - 12:09 Uhr Artikel anhören
Daniela Schwarzer ist Vorständin der Bertelsmann-Stiftung und verantwortet dort die Programme und Projekte zur Zukunft Europas sowie Demokratie und Zusammenhalt. Foto: Klawe Rzeczy, Bertelsmann Stiftung

„1000 Menschen“, sagte leicht ungläubig Frankreichs Europaminister Benjamin Haddad. 1000 Menschen drängten sich am 14. Juli durch die französische Botschaft in Berlin. Das große Interesse an Frankreichs Nationalfeiertag und die gelöste Stimmung am Pariser Platz unterstrichen: Zwischen den beiden Hauptstädten liegt ein erwartungsvolles Knistern in der Luft.

Unterlegt ist es vom drückenden Gefühl, dass es jetzt klappen muss mit konkreten Ergebnissen angesichts von Herausforderungen, die ebenso vielschichtig wie existenziell sind für unser europäisches Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell, für unsere Sicherheitsordnung und Demokratie.

Die gute Nachricht ist: Die wichtigsten Voraussetzungen für ein produktives deutsch-französisches Verhältnis – Vertrauensvorschuss und Commitment zu Europa – sind zurück. Bereits am ersten Tag seiner Amtszeit zeigte Bundeskanzler Friedrich Merz, wie wichtig das bilaterale Verhältnis an sich und für die Weiterentwicklung der Europäischen Union ist.

Der eng getaktete Besuchskalender zwischen beiden Hauptstädten inklusive des Berlin-Besuchs von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron kurz vor der Sommerpause lassen hoffen, dass Berlin und Paris an konkreten Maßnahmen arbeiten. Die Schwierigkeit ist nicht, deutsch-französische Themen zu finden. Das Problem ist die Priorisierung und die Sicherstellung, dass beide Seiten trotz innenpolitischer Herausforderungen liefern.

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Die im EU-Kontext drängendste Frage ist die Transformation des europäischen Wirtschaftsmodells. Angesichts der aggressiven US-Zollpolitik, des Wegbrechens des chinesischen Markts, wachsender Konkurrenz mit China in Drittstaaten und Unsicherheiten beim Rohstoffzugang muss die EU ihre industrie- und wettbewerbspolitischen Strategien neu ausrichten, die Kapitalmarktunion voranbringen und wirtschaftliche Sicherheit und Resilienz schnell verbessern. Es geht dabei um nichts weniger als eine Neubewertung der Rolle des Staats in der Wirtschaft.

Strukturelle Faktoren und ideologische Divergenzen führen Berlin und Paris traditionell zu unterschiedlichen Positionen, etwa in der Industrie-, Währungs-, Haushalts- oder Agrarpolitik. Gleichzeitig sind die beiden Volkswirtschaften eng verflochten und stellen fast die Hälfte der Wirtschaftskraft der Euro-Zone. Wenn Europas Wirtschaft zukunftsfähig werden soll, müssen Deutschland und Frankreich mitgestalten. Ein strategischer Dialog darüber zwischen Politik, Wirtschaft, Verbänden, Wissenschaft und Gesellschaft ist so wichtig wie seit Einführung des Euros nicht mehr. Gemeinsame Handlungsfähigkeit zeigt sich im Konkreten, zum Beispiel in der Erarbeitung einer Strategie zur Zukunft des europäischen Automobilsektors, an dem beide Staaten größtes Interesse haben.

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Zur Zukunftsfähigkeit gehört zweitens die technologische Souveränität. Europas Abhängigkeit von US-Tech-Konzernen, von denen einige von Personen geführt werden, die an einer postdemokratischen Ordnung, teils im engen Schulterschluss mit der US-Regierung, arbeiten, ist gefährlich. Berlin und Paris haben bedauerlicherweise in der Vergangenheit viel liegen gelassen, etwa Ziele im Aachener Vertrag von 2019. Jetzt sollten beide gemeinsame Datenräume und grenzüberschreitende digitale Infrastruktur aufbauen. Eine europäische Beobachtungsstelle zur digitalen Souveränität kann Abhängigkeiten offenlegen und mit Stakeholdern die Kosten des Nichthandelns bewerten.

Ehrliche Debatte über Ausgabenreform

Gemeinsame Finanzierungsinstrumente und die Definition gemeinsamer Ausschreibungsstandards, um Modellkonvergenz herzustellen, würden europäische Lösungen etwa im Bereich KI oder Clouds fördern. Ohne dezidierte und dauerhafte politische Unterstützung und unternehmerisches Engagement dürften digitale Gemeinschaftsprojekte den gleichen Weg gehen wie einige Rüstungsprojekte: Mit Pomp aus der Taufe gehoben, drohen sie an fehlender Weitsicht und nationalen Verteilungsängsten zu scheitern.

Drittens sind Berlin und Paris als größte Nettozahler in einer Schlüsselrolle für die Reform des europäischen Finanzrahmens. Nach der Verständigung auf europäische Prioritäten muss eine ehrliche Debatte über Ausgabenreformen und Finanzierungsmodalitäten folgen. Berlin und Paris werden dabei wegweisende Kompromisse eingehen müssen.

Europäische Souveränität, Handlungsfähigkeit, Wettbewerbsfähigkeit und Zusammenhalt sind von großem Vorteil für beide Länder. Darauf aufbauend können Pakete geschnürt werden, die die Unterschiedlichkeit berücksichtigen und Kompromisse ermöglichen, um Stärken gemeinsamen zu stärken. Wenn sich die beiden Regierungen im Spätsommer zum deutsch-französischen Ministerrat treffen, haben sie die Chance, eine echte strategische Reset-Agenda zu definieren.

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Erstpublikation: 22.07.2025, 03:58 Uhr.

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