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Kolumne „Kreative Zerstörung“Captcha fürs Menschsein 

Wer das Internet nutzt, muss ständig Ampeln, Fahrräder und Co. erkennen und so sein Menschsein beweisen. Mit KI könnte dieses System bald überholt sein, vermutet Miriam Meckel. 10.10.2023 - 15:12 Uhr Artikel anhören

In dieser Kolumne schreibt Miriam Meckel 14-täglich über Ideen, Innovationen und Interpretationen, die Fortschritt und ein besseres Leben möglich machen.

Foto: Klawe Rzeczy

Wie viele verzerrte Buchstaben haben wir schon in Eingabefelder eingetragen? Wie viele in kleine Kästchen aufgeteilte Fahrräder, Ampeln oder Boote durch Klicks in einem Bild zusammengesetzt? Alles nur, um Zugang zu einer Webseite zu bekommen. Die täglichen kleinen Rätsel des Internets können einem auf die Nerven gehen, auch weil sie uns immer wieder vor eine existenzielle Frage stellen: Warum muss ich ständig im Internet beweisen, dass ich ein Mensch bin? 

Die Antwort darauf lautet schlicht: Weil inzwischen so viel Maschinelles im Netz unterwegs ist, dass diese Unterscheidung wichtig wird. Es sind vor allem Bots, die zu einer unübersichtlichen Lage beigetragen haben. Sie klicken unermüdlich, oft in Heeresformation auf etwas, um „Traffic“, also „Begegnungsverkehr“ mit den jeweiligen Informationen zu simulieren. Auf diese Weise machen sie Geld für eine Interaktion, die eigentlich keine ist.

Diese Tests, die darauf abzielen, unser Menschsein zu testen, laufen unter dem Begriff „Captcha“. Der steht für „Completely Automated Public Turing test to tell Computers and Humans Apart”. In der Regel kommt Captcha zum Einsatz, wenn man sich auf einer Website anmeldet, ein Formular ausfüllt oder eine Onlinetransaktion durchführt. 

Der Grund für diese Tests ist die Sicherheit. Websites nutzen Captchas, um Spamming, Datenmissbrauch und andere Formen automatisierter Malware zu verhindern. Wenn ein Benutzer den Captcha-Test besteht, beweist er, dass er ein Mensch ist, und erhält somit Zugang zu bestimmten Onlinediensten.

Doch genau in dieser Beweisführung des Menschseins hat sich etwas seltsam verschoben. Die Technik hat auch hier inzwischen die besseren Startvoraussetzungen. In den letzten Jahren hat die Entwicklung der Künstlichen Intelligenz, insbesondere im Bereich der generativen KI, dazu geführt, dass Software Captchas nun besser lösen kann als Menschen. Die Technik hat unseren Schutz vor ihrem missbräuchlichen Einsatz mal eben ausgetrickst.

Altman gründet „Worldcoin“

Genau in diese Lücke stößt ein Unternehmen, das unter anderem vom neuen Star der KI-Szene, Sam Altman, mitgegründet und im Sommer 2023 der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Altman und zwei Co-Gründer haben mit „Worldcoin“ eine Onlineplattform und Kryptowährung ins Leben gerufen, die sich große Ziele setzt. Das Unternehmen soll die durch KI wachsende Ungleichheit bekämpfen und ein universelles Grundeinkommen durch eine zugängliche digitale Identifikationsmöglichkeit einzuführen. 

Wie das genau funktionieren soll, ist eher unklar. Aber die globale digitale ID ist schon in Betrieb. „Algorithmen werden immer leistungsfähiger“, sagt Sam Altman. „Dadurch ist es schwer zu wissen, ob wir uns gerade mit einem Menschen oder einem Roboter austauschen. Also brauchen wir einen Weg, der uns Menschen als echte Menschen ausweist.“ 

In einem Gespräch mit dem „Economist“ beschreibt der israelische Historiker Yuval Harari, seine größte Sorge seien „gefälschte Menschen“. Technologie also, die sich als eine von uns ausgibt und unser Vertrauen in sie gegen uns nutzt.

Iris als neuer Fingerabdruck

Dies will Worldcoin verhindern – und zwar über einen Scan der Iris im menschlichen Auge. Das Unternehmen hat dazu ein eigenes Gerät entwickelt, den Orb, mit dem sukzessive die Augen aller Erdenbewohner gescannt werden sollen. Die Iris ist bei jedem Menschen anders, ähnlich wie ein Fingerabdruck, nur noch viel genauer. Wenn der Orb die Irisstruktur der Augen eines Individuums gescannt hat, wird daraus ein Identifizierungscode erzeugt, der als eindeutige Kennung der Person dient. 

Dieser Code wird auf der dezentralen Worldcoin-Blockchain gespeichert, um zu verhindern, dass andere den Code replizieren können. Dafür werden die Scans anonymisiert, sodass sie später nicht mehr zu dieser Person zurückverfolgt werden können. Jeder Mensch erhält so ein digitales Zertifikat als „proof of personhood“, als „Beweis seines Menschseins“.

Das klingt nach einer Neuauflage von George Orwells „1984“ und nach einem potenziellen Albtraum für die Privatsphäre. Und doch war das Start-up gleich in mehr als 20 Ländern aktiv, vielerorts standen Menschen Schlange, um die eigenen Augen scannen zu lassen. Vor allem aber zeigt es, welche Dynamik durch generative KI ausgelöst wird. Ein bisschen zynisch könnte man meinen: Sam Altman hat mit ChatGPT einen Bot geschaffen, der das Internet mit Desinformation und Vermarktungstricks flutet, und nun gründet er eine neue Firma, die mithilfe von biometrischen Daten dafür sorgen soll, dass Menschen sich in dieser Remixwelt überhaupt noch zurechtfinden können.

„Technisch“ statt menschlich

Der Mensch ist nicht mehr der Normalfall. Bis jetzt lautet die Voreinstellung unserer Zivilisation auf „human“. Technologie wurde eingesetzt, um Menschen dabei zu unterstützen, ihre Aufgaben zu erledigen und ihr Leben leichter oder vergnüglicher zu machen. Wir sind nun dabei, den Schalter umzulegen. Die Voreinstellung lautet dann auf „technisch“. 

Verwandte Themen Sam Altman ChatGPT Internet Blockchain Software

Technologie wird der Normalfall, und wir Menschen müssen ständig beweisen, dass wir keine Bots sind. Das ist im übertragenen Sinne eine Umkehr der zivilisatorischen Unschuldsvermutung. Das Recht des Menschen auf die positive Grundannahme seines tatsächlichen Menschseins entfällt. Wer seine Existenz als Mensch nicht beweisen kann, hat ab sofort ein Problem.

Wie wollen wir es mit den Voreinstellungen unserer Lebenswelt halten? Soll Technologie Standard und der Mensch zur Ausnahme werden? Das müssen wir Menschen jetzt entscheiden. Irgendwann in ferner Zukunft wird sich sonst ein Bot an die Captchas erinnern – als bescheidenen Versuch, die zivilisatorische Hackordnung zugunsten des Menschen zu erhalten. Es wird rückblickend ein untauglicher Versuch gewesen sein.

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Miriam Meckel
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