„Kreative Zerstörung“: Recht personalisiert – bringt KI Gerechtigkeit?

Wann immer ich ein Auto miete, beginnt nach wenigen Minuten der Aufmerksamkeitskampf. Die neuen Mietwagen sind nämlich alle so technisch ausgelegt, dass sie schon bei einer kleinen Geschwindigkeitsüberschreitung laut piepen. Das ist aus Sicht der Mietwagenanbieter nachvollziehbar, weil es die Mieterinnen und Mieter vor teuren Strafzetteln schützt.
Aus Sicht der Fahrerin nervt mich das ungemein, denn die meisten Autos fangen schon im Toleranzbereich von drei km/h an, Krach zu machen, sodass man nach kurzer Zeit glaubt, an einem geschwindigkeitsinduzierten Tinnitus zu leiden.
Man muss sich in die tiefsten Tiefen des Betriebssystems begeben, um diesen Warnmechanismus auszuschalten (Tipp: Dabei hilft KI). Aber: Immerhin geht das noch. Wir stecken gerade mitten in der Phase der Transformation aus einer Zeit, in der Menschen vieles noch selbst machen mussten. In eine Zeit, in der KI-Agenten Schritt für Schritt immer mehr Aufgaben von uns übernehmen.
Wenn die mal in Autos eingebaut sind, wird der Agent immer ein Stück schneller sein als der Fahrer und dafür Sorge tragen, dass der Warnpiepser niemals ausgeschaltet wird.
Willkommen in der Matrix der Erziehungstechnologie, die dafür sorgt, dass wir nie eine Grenze überschreiten.
Was wäre, wenn diese Grenzen nicht mehr für alle gleich verlaufen? Wenn das piepsende Auto nicht jedem Fahrenden bei exakt derselben Geschwindigkeit in den Ohren liegt, sondern individuell abgestimmt wird – je nach Fahrhistorie, Reaktionsfähigkeit, Risikoneigung? Die Idee dahinter ist so einfach wie radikal: individuelles Recht oder Gerechtigkeit nach Maß.
Genau diese Vision entwerfen Omri Ben-Shahar und Ariel Porat in ihrem Buch „Personalized Law – Different Rules for Different People“. Ihr Grundgedanke: In einer Welt, in der uns Algorithmen schon das nächste Lied, den passenden Partner und das ideale Shampoo empfehlen, müsste es doch auch möglich sein, Gesetze so zu gestalten, dass sie den Besonderheiten des Individuums gerecht werden.
Statt einheitlicher Regeln – wie z. B. einer allgemeinen Höchstgeschwindigkeit von 130 km/h – gäbe es dann personalisierte Vorschriften: Du darfst 145 fahren, weil du erfahren, reaktionsschnell und unfallfrei bist. Ich hingegen nur 118, weil ich ein Handy-Junkie am Steuer bin.
Was bedeutet es gesellschaftlich, wenn für jede und jeden eigene Regeln gelten? Wenn mein Recht nicht mehr dein Recht ist – und unser gemeinsames Recht sich in einem Flickenteppich individueller Bestimmungen auflöst? Die Autoren argumentieren, dass mit den Mitteln moderner Technologie, vor allem der Künstlichen Intelligenz, ein exaktes, gerechteres System möglich sei.
Da muss man schon mal wissen: Personalisiertes Recht funktioniert nur, wenn eine Instanz Zugriff auf sämtliche persönliche Daten hat. Wer wie fährt. Was man verdient. Wie gut man lesen kann. Ob man impulsiv ist. Ob man risikofreudig handelt. Diese Daten fließen in Algorithmen ein, die darüber entscheiden, welche Regeln für uns gelten. Das mag für personalisierte Spotify-Playlists ein toller Ansatz sein – aber im Rechtswesen?
Individuelle Strafen statt gemeinsamer Regeln?
Gesetze sind – zumindest in ihrer idealtypischen Form – kollektive Vereinbarungen. Sie gründen auf dem Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz, das wiederum ein Kern unserer liberalen Gesellschaftsordnung ist. Personalisierung unterläuft dieses Prinzip und ersetzt es durch ein Effizienzversprechen: Hauptsache, das Ergebnis stimmt.
Eine KI könnte also ermitteln, dass ich nur mit einer drastischen Geldstrafe von 500 Euro davon abgehalten werde, bei Rot über die Ampel zu gehen. Andere hingegen brauchen nur ein mildes 15-Euro-Knöllchen. Ist das gerecht? Oder machen wir damit eher den Bock zum Gärtner: Die Bedeutung eines Fehlverhaltens hängt am Individuum, einen gesellschaftlichen Konsens gibt es darüber nicht mehr.
Gemeinschaft entsteht auch durch das Erleben gemeinsamer Grenzen. Ein Tempolimit, das Steuerrecht, das Recht auf Eigentum – sie alle sind in ihrer Allgemeinheit eine Einladung zur Teilhabe an einem kollektiven Projekt. Wer sich daran hält, ist Teil des Ganzen – und wer dagegen verstößt, bricht nicht nur eine Regel, sondern verletzt ein gemeinsames Versprechen.
Und damit kommen wir zum vielleicht wichtigsten Punkt: Gibt es nicht auch ein Recht auf Regelverstoß? Eine liberale Gesellschaft misst sich nicht nur daran, wie gut sie Regeln setzt, sondern auch daran, wie sie mit jenen umgeht, die sich nicht daran halten.
Der kleine Verkehrsverstoß, der mutige zivilgesellschaftliche Ungehorsam, die kreative Gestaltung der Steuererklärung – sie alle sind Ausdruck individueller Freiheit, des Widerstands gegen das Solidarprinzip. Man muss sie nicht gutheißen, aber sie gehören zur Mehrdeutigkeit menschlicher Entscheidung dazu.


Wenn aber jede Regel bereits auf mein Verhalten hin personalisiert ist, wird jeder Verstoß zu einem systemischen Fehlverhalten. Dann gibt es keine Lücken mehr, keine Grauzonen, keine Möglichkeit, das System zu hinterfragen. Weil es mich ja schon kennt, bevor ich handele. Das perfekte Rechtssystem wäre damit eines, das kein Anderssein mehr erlaubt. Und das wäre das Ende der Freiheit, nicht ihr Triumph.
Vielleicht muss ich die laute Warnung im Mietwagen doch als ein Zeichen der Hoffnung lesen: Solange ich sie noch ausschalten kann, habe ich eine Wahl. Und jedes Knöllchen wird zum Akt der Freiheit, allein durch die theoretische Chance auf Regelbruch.
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