Kolumne „Kreative Zerstörung" Münchhausen im Silicon Valley – so belog die Theranos-Gründerin die Welt

Miriam Meckel ist deutsche Publizistin und Unternehmerin. Sie ist Mitgründerin und CEO der ada Learning GmbH. Außerdem lehrt sie als Professorin für Kommunikationsmanagement an der Universität St. Gallen.
Es war einmal eine junge Frau, die die Welt der Medizin revolutionieren wollte. Mit nur ein paar Tropfen Blut, entnommen durch einen Pikser in die Fingerkuppe, wollte sie die Menschen auf alle möglichen Krankheiten testen. Von Ebola bis zur Krebserkrankung.
Neueste Technologie und Software sollten das möglich machen. Und mehr als ein Jahrzehnt haben fast alle ihr geglaubt – die hohen Herren der US-Politik, inklusive des amtierenden Präsidenten Joe Biden, die Investoren und die Medien. Sie schrieben und sendeten diese Frau einem Heldinnnenmythos gleich in den Himmel der erfolgreichen Unternehmerinnen (erste weibliche Gründermilliardärin aller Zeiten). Nur eins war blöd: Die Technik hat nie funktioniert. Tausende von Bluttestergebnissen waren fehlerhaft oder gar unbrauchbar. Die Erfolgsgeschichte von Theranos, eine einzige Lügengeschichte.
Gründerin Elizabeth Holmes und ihr Ex-Freund und -Geschäftspartner Ramesh „Sunny“ Balwani müssen sich dafür nun vor Gericht verantworten. Im Laufe der Verhandlung wird sicher noch einiges ans Licht kommen. Längst wird es höchste Zeit, ein paar Märchen der Silicon-Valley-Gründerkultur abzuräumen.

In dem Prozess „United States vs. Elizabeth Holmes“ geht es darum, ob die Theranos-Gründerin eine Verbrecherin ist oder eine gescheiterte Unternehmerin.
Elizabeth Holmes ist die Lügenbaronin des Valley. Wie Hieronymus Carl Freiherr von Münchhausen im 18. Jahrhundert auf einer Kanonenkugel ritt, so ritt Holmes auf ihrem „Nanotainer“, einem gut einen Zentimeter großen Gefäß zur minimalen Blutentnahme, von Talkshow zu Talkshow. Dabei hat sie alle Erwartungen bedient, die eine auf Erfolgsgeschichten der Superlative geile Öffentlichkeit braucht, um dem Heldinnenmythos unwiderruflich zu verfallen. Jede dieser Inszenierungen wäre mit ein paar kritischen Checks zu entlarven gewesen. Aber das vom Heilsbringermythos besoffene Publikum wollte den ungestörten Rausch erleben.
An der Theranos-Geschichte ist eigentlich alles fake. Holmes trug schwarze Rollkragenpullover, um mit Apple-Gründer Steve Jobs verglichen zu werden. Edison hieß das Gerät, mit dem Theranos das Blutbild anhand weniger Tropfen erstellen sollte – nach dem großen Erfinder, der mehr als tausend Patente anmeldete. Aber die Maschine funktionierte nicht. Theranos kaufte Analysegeräte von Siemens und verwendete die heimlich für die eigenen Bluttests. Holmes behauptete, nur vier Stunden pro Nacht zu schlafen und eigentlich immer zu arbeiten, um den Kult der Rund-um-die-Uhr-Leistungsfähigkeit zu bespielen. Im Unternehmen übersetzte sich die Inszenierung der genialen Gründerin in eine Unkultur aus Wutausbrüchen, Mobbing und Mitarbeiterfluktuation.
Elizabeth Holmes: Die Geschichte vom Scheitern
Zwischen Erfindergeist und überbordendem Ehrgeiz, zwischen Großartigkeit und Größenwahn klafft eine Lücke, die wir bei vielen Unternehmen aus dem Valley rückblickend identifizieren können. Mark Zuckerberg hat nicht groß darüber nachgedacht, wie sein soziales Netzwerk den Zusammenhalt ganzer Gesellschaften sprengen könnte. Travis Kalanick hat nie darüber nachgedacht, welchen Gefahren Uber-Fahrer und -Fahrgäste ausgesetzt sein könnten. Und Holmes hat nie darüber nachgedacht, wie ihre Fakes Gesundheit und Leben anderer Menschen gefährden könnten. Oder sie hat diese Gedanken schlicht ignoriert.
In ihrer Verteidigungslinie beruft Holmes sich nun auf psychologischen, emotionalen und sexuellen Missbrauch durch ihren langjährigen Partner und Co-Geschäftsführer Sunny Balwani. Als Feministin ist Holmes nie aufgefallen, wohl aber darin, sich als „girlboss“ perfekt zu inszenieren. Und doch soll auch hier ein Mann schuld sein. Gleichberechtigung heißt, als Frau die gleichen Ambitionen haben zu dürfen wie Männer, gleich heftig scheitern und auch wieder aufstehen zu dürfen. Aber Gleichberechtigung heißt auch, die Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen.
Die Geschichte der Elizabeth Holmes ist nicht weiblich oder männlich, sie ist menschlich. Sie steht auch nicht für das Ende des Heldinnenmythos der Start-up-Szene. Es ist die Geschichte vom Scheitern, das unzweifelhaft kommt, wenn man individuellen Größenwahn über Teamwork und systemisch-strategisches Denken setzt. Es ist auch die Geschichte der maßlosen Arroganz, einfach jedes Feld gnadenlos disruptieren zu wollen, ohne die Expertise anderer einzubeziehen, die reale Erfahrung haben.
Und es ist, nicht zuletzt, die jahrhundertealte Geschichte eines menschlichen Makels: von Männern und Frauen, die sich, unabhängig von Alter, Kompetenz und Reichtum, von Menschen aus dem Reich Münchhausen betrügen und betrügen lassen – im Krieg, in der Liebe und im Business.
In dieser Kolumne schreibt Miriam Meckel 14-täglich über Ideen, Innovationen und Interpretationen, die Fortschritt und ein besseres Leben möglich machen. Denn was die Raupe Ende der Welt nennt, nennt der Rest der Welt Schmetterling. ada-magazin.com
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