Prüfers Kolumne: Die KI bemächtigt sich der menschlichen Stimme – auch der des Chefs
Ein leises Summen, ein Name auf dem Display, ein erhöhter Puls. Wenn der Chef anruft, dann werden Angestellte nervös. Wenn die Stimme von ganz oben erklingt, fühlt man sich sehr gemeint. Denn immerhin hat der Chef sein Telefon genommen und seinen Mitarbeiter persönlich angewählt. Es muss also dringend sein. Man fragt nicht nach, sondern funktioniert.
In der „Welt am Sonntag“ habe ich nun gelesen, dass immer öfter Betrüger die Stimme des Chefs mit Künstlicher Intelligenz nachbilden. In einem Fall forderte eine makellos nachgebildete Vorstandsstimme an einem Freitagnachmittag eine eilige Überweisung: 220.000 Euro – die dann im Nichts verschwanden. Die Technik macht aus wenigen Sekunden Audio eine Stimmpuppe; Aufwand und Materialkosten tendieren gegen null, der Preis für Leichtgläubigkeit ist aber astronomisch hoch. Das FBI bezifferte 2024 einen weltweiten Schaden von 2,9 Milliarden Dollar durch Social Engineering, ein Zuwachs von sieben Prozent.
Zukunftsforscher sprechen schon von der „akustischen Authentifizierung“. Bald flankiert jede Personalakte eine Klangprobe, und neue Vorstände müssen Sätze einsprechen wie früher Kinder Schullieder. Das wirkt bürokratisch, ist aber weniger lästig als der Verlust einer Investition oder die Scham, gefallen zu sein, nur weil jemand den richtigen Ton traf.
Wenn wir an Autoritäten glauben können, dann hören wir auf zu denken. Wenn der Chef am Telefon ist, machen wir alles, dafür ist er ja der Chef, oder? Psychologen sprechen von „obedience to authority“, Neurowissenschaftler von einem Sparmodus des Denkens, der jedes Nachfragen überflüssig erscheinen lässt. Je höher die Stimme im Organigramm, desto leiser wird das eigene Urteilsvermögen. Vielleicht sind aber auch die Chefs schuld. Wenn die Mitarbeiter von ihrem Chef nur rational Nachvollziehbares erwarten würden, dann würden sie vielleicht dreimal nachfragen, bevor sie 220.000 Euro in den Orkus überweisen.
Vielleicht wäre die Lösung nicht in weniger, sondern mehr KI. Warum denn nicht den Chef gleich durch eine Software ersetzen? Ein stimmlich perfekter Avatar begänne pünktlich, forderte klare Prozesse und zeigte keinerlei Launen. Keine Tagesform, kein Freitag-noch-schnell-Reinrufen. So ein Chef würde wahrscheinlich auch keine sexuell anzüglichen Bemerkungen machen, und man müsste ihm nicht jedes Jahr höhere Boni zahlen, damit der wenigstens mittelmäßig weiterfunktioniert.
Problematisch wäre das wahrscheinlich für Golfplatzbetreiber, Uhrenhersteller und die Sportwagenproduzenten, die dann nicht mehr bereitstünden, um die Vorstandsgehälter in entsprechende Insignien der Macht umzumünzen. Und auf den Bürofluren wüsste man nicht mehr, über wen man sich den ganzen Tag beschweren und als unfähig bezeichnen soll. Das würde vielleicht zu mehr Konflikten zwischen den Mitarbeitern führen. Es bleibt also besser alles, wie es ist. Hin und wieder mal 220.000 Euro zu verlieren, ist dagegen günstig.