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StrukturkriseWenn die Industrie schrumpft – und nur der Staat noch wächst

Die deutsche Wirtschaft stagniert, die Industrie baut Stellen ab – nur der Staatssektor hält die Statistik oben. Das kann sich auf Dauer keine Volkswirtschaft leisten.Bert Rürup, Axel Schrinner 12.12.2025 - 10:24 Uhr Artikel anhören
Bert Rürup ist Chefökonom des Handelsblatts. Foto: Getty Images [M]

Düsseldorf. Die deutsche Volkswirtschaft stagniert seit sechs Jahren – so weit, so bekannt. Tatsächlich ist die Misere allerdings größer, als es die um die Nulllinie schwankenden Quartalsdaten zur gesamtwirtschaftlichen Entwicklung nahelegen. Wachstumsbeiträge kommen inzwischen vor allem aus einem expandierenden Staatssektor, während Industrie und privatwirtschaftliche Dienstleistungen Beschäftigung und Kapazitäten abbauen.

Dies steht in einem deutlichen Kontrast zu früheren Krisen. Als beim Ausbruch der Weltfinanzkrise oder während des ersten Corona-Lockdowns die Konjunktur in Deutschland in bislang nicht gekanntem Ausmaß einbrach und die Industrieproduktion nahezu zum Stillstand kam, reagierten die meisten Unternehmen besonnen.

Statt die Belegschaften – wie etwa in den USA üblich – abzubauen, horteten sie ihr Personal. Die knappen, qualifizierten Fachkräfte wurden im Vertrauen auf bessere Zeiten gehalten, und der Staat unterstützte dies mit großzügigen Kurzarbeiterregelungen.

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Aus ökonomischer Sicht war das sinnvoll: Die erwarteten Kosten für das Vorhalten der Belegschaften wurden trotz „Kurzarbeit null“ als geringer eingeschätzt im Vergleich zum Aufwand für Suche und Einarbeitung neuer Fachkräfte, sobald ein Aufschwung einsetzen würde.

Heute – nach sechs Jahren faktischer gesamtwirtschaftlicher Stagnation – gibt es diese Hoffnung offenkundig nicht mehr. Zwar gelang es der Regierung von Kanzler Friedrich Merz (CDU) kurz nach der Bundestagswahl, so etwas wie Aufbruchsstimmung zu erzeugen. Doch der Koalitionsvertrag von Union und SPD setzte dem bald ein Ende.

Nach einer Forsa-Umfrage für die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeber (BDA) sind inzwischen 82 Prozent der befragten Unternehmen aller Branchen enttäuscht von der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik der Regierung.

Restrukturierung statt Aufbruch

Das Ifo-Geschäftsklima hat sich im Verlauf des Jahres 2025 kaum bewegt und verharrt deutlich unter den Werten früherer Jahre. Von Januar bis November stieg dieser Index nur um etwa 2,8 Punkte, was laut Ifo „fast einem Stillstand gleichkommt“. Die Geschäftslage veränderte sich kaum; lediglich die Erwartungen hellten sich im Jahresverlauf leicht auf. Trotz einer etwas besseren Stimmung in nahezu allen Industriebranchen bleibt der Index im negativen Bereich – die Zahl der Pessimisten ist also weiterhin größer als die der Optimisten.

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Zugleich sprechen die massiven Restrukturierungsprogramme vieler Konzerne eine deutliche Sprache. Dies lässt kaum einen anderen Schluss zu, als dass die Unternehmen die Hoffnung auf spürbares Wachstum in Deutschland aufgegeben haben.

Acht Zinssenkungen der Europäischen Zentralbank (EZB) haben zumindest der deutschen Ökonomie keinen erkennbaren Rückenwind verschafft. Wenn investiert wird, dann vor allem in dynamischere Volkswirtschaften.

Industriepark Höchst: Der Industriesektor war lange der wichtigste Wohlstandsmotor in Deutschland. Foto: Hannes P Albert/dpa

Berechnungen des Handelsblatt Research Institute zeigen: Allein in den ersten drei Quartalen dieses Jahres haben Dax-Unternehmen ungefähr sechs Milliarden Euro für Restrukturierungen aufgewendet. Diese Gelder fließen vorwiegend in den Personalabbau, etwa in Vorruhestandsregelungen und großzügige Abfindungen. Und der Trend beschleunigt sich: Seit Anfang 2024 summieren sich die Restrukturierungskosten der Dax-Konzerne auf mehr als 16 Milliarden Euro.

Der Chemiekonzern Bayer etwa hat seit Ende 2023 rund 13.200 Stellen abgebaut – etwa 13 Prozent der Belegschaft. Für das bis 2026 einschlägige Programm veranschlagt der Konzern zwei Milliarden Euro. Die höchsten Restrukturierungskosten fielen im bisherigen Jahresverlauf beim Autobauer Mercedes mit 1,4 Milliarden Euro an, gefolgt von Volkswagen mit 900 Millionen Euro. Bei Siemens und der Commerzbank waren es jeweils etwa 500 Millionen Euro.

Amtlichen Daten zufolge waren im dritten Quartal dieses Jahres noch 5,43 Millionen Personen im verarbeitenden Gewerbe beschäftigt, 120.300 weniger als im Vorjahreszeitraum. Dies entspricht einem Rückgang von 2,2 Prozent. Besonders stark betroffen war die Autoindustrie, wo auf Jahressicht nahezu 50.000 Stellen gestrichen wurden – also mehr als sechs Prozent.

Die Arbeitslosenzahlen steigen zwar langsam, aber stetig. Massenarbeitslosigkeit wie vor zwei Jahrzehnten ist dennoch nicht in Sicht. Wesentlicher Grund dafür ist die demografische Entwicklung: Die geburtenstarken Babyboomer-Jahrgänge wechseln sukzessive in den Ruhestand – und nicht wenige der jetzt von den Unternehmen Freigestellten dürften nach einigen Monaten Arbeitslosigkeit in den mit Abfindungen finanziell abgefederten Vorruhestand übergehen.

Die erst bei Erreichen des Regelrentenalters einsetzende neue „Aktivrente“ – ein Steuerfreibetrag für sozialversicherungspflichtig arbeitende Rentner – dürfte für die meisten von ihnen zu spät greifen oder wenig attraktiv sein.

Zäsur für die deutsche Volkswirtschaft

Der rapide Verfall von Teilen der Industrie markiert eine Zäsur für die Entwicklung der deutschen Volkswirtschaft. Zum einen waren die Deutschen zu Recht lange stolz auf ihre leistungsfähigen Unternehmen, die der Volkswirtschaft von 2003 bis 2008 den Titel „Exportweltmeister“ einbrachten.

Zum anderen – und weit wichtiger – stand die Industrie für hohe Produktivitätsfortschritte, entsprechend ansehnliche Lohnsteigerungen sowie leistungsfähige Netzwerke aus mittelständischen Dienstleistern und Zulieferern. Kurzum: Die Industrie war der wichtigste Wohlstandsmotor in Deutschland.

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Heute ist es dagegen der rapide wachsende Staatssektor, der die Gesamtwirtschaft stützt – finanziert über deutlich steigende Neuverschuldung. Der Staatskonsum wuchs binnen zehn Jahren um mehr als 25 Prozent, die öffentlichen Investitionen legten sogar um 40 Prozent zu.

Zudem waren im dritten Quartal im Bereich „öffentliche Dienstleister, Erziehung, Gesundheit“ 201.000 Personen mehr beschäftigt als im Vorjahreszeitraum – ein Zuwachs von 1,7 Prozent. Klammert man die staatlichen oder staatsnahen Bereiche aus, wurden auch im Dienstleistungsbereich auf Jahressicht in der Summe etwa 50.000 Stellen abgebaut. Offensichtlich wächst in Deutschland in erster Linie der öffentliche Sektor – eine Entwicklung, die sich auf Dauer keine Volkswirtschaft leisten kann.

Was jetzt zu tun wäre

Was zu tun wäre, ist im Grundsatz bekannt: Mehr als 80 Prozent der von der BDA befragten Unternehmen sehen überbordende Vorschriften und Bürokratie als großes oder sehr großes Problem an. An zweiter Stelle rangieren mit jeweils rund 70 Prozent die Unsicherheit über den wirtschaftspolitischen Kurs der Regierung, zu hohe Arbeitskosten und – immer noch – der Fach- und Arbeitskräftemangel.

Konzepte aus der Wissenschaft, diesen Missständen zu begegnen, liegen auf dem Tisch – etwa für eine anreizkompatible Bürgergeldreform, zielgerichtete steuerliche Entlastungen aller Unternehmen, Maßnahmen zur Stabilisierung der Lohnnebenkosten und eine an den Erfordernissen des Arbeitsmarkts orientierte Einwanderungspolitik.

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Ohne Einschnitte wird es nicht gehen. Die goldenen GroKo-Zeiten der vergangenen Dekade, als angesichts eines XXL-Aufschwungs Konflikte zwischen den Regierungsparteien mit Steuergeldern entschärft werden konnten, sind vorbei. Was die deutsche Volkswirtschaft jetzt stimulieren würde, ist eine angebotsorientierte Wende in der Wirtschaftspolitik.

Eine solche Wende erfordert zum einen den Mut, das Ausmaß des Problemdrucks offen zu benennen, und zum anderen das kommunikative Geschick, die Notwendigkeit eines Kurswechsels zu vermitteln. Viel Zeit, diesen Kurswechsel einzuleiten, bleiben Merz und seinem Vize Lars Klingbeil (SPD) nicht.

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