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EditorialWarum Deutschland das Träumen neu lernen muss

Deutschland hat vieles perfektioniert – nur nicht den Blick nach vorn. In einer Welt voller Krisen wächst die Sehnsucht nach Lösungen, nicht nach Visionen. Doch wer das Träumen verlernt, verliert die Zukunft.Sebastian Matthes 05.09.2025 - 13:10 Uhr
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Handelsblatt Chefredakteur Sebastian Matthes. Foto: Max Brunnert für Handelsblatt

In einer großen Tageszeitung stellten vor wenigen Tagen zwei Autoren die Frage, woher nur die zunehmende Faszination für technologische Großprojekte komme. Es ging in dem Text um Schnellzüge in Vakuumröhren (Hyperloop), um Fusionsreaktoren und um Raumfahrt. Ein Physikprofessor kam darin zu Wort, der eine bemerkenswerte Diagnose stellte. Der Umgang mit Technologien, so sagte der Professor, sei mittlerweile „quasi-religiös“. Und Achtung: Die säkularisierte Heilserwartung des Christentums sei „von Gott auf die Technik“ übergegangen. Gerade in den USA verbreitete sich diese neue Religion, dort, wo Technik-Apologeten wie Elon Musk von einer Auswanderung auf den Mars träumten.

Und natürlich sei das nicht gut. Man solle doch erst einmal die irdischen Probleme lösen, bevor man den Kopf zu weit in die Wolken stecke: Wo die Idee einer Magnetschwebebahn grassiere, so der Professor, gelte eine bestehende Technologie wie ein Schnellzug schnell als angestaubt. Also: Löst erst einmal die Probleme der Gegenwart, bevor ihr euch so wilde Sachen ausdenkt.

Ich habe diesen Text ausgerechnet während eines Besuchs im Munich Urban Colab gelesen, dem Gebäude des Gründerzentrums UnternehmerTUM, wo junge Start-ups an genau solchen Dingen arbeiten: Innovationen für die Raumfahrtindustrie, Roboter, und ja, auch Schnellzüge in Vakuumröhren. Während ich dort auf mein nächstes Gespräch wartete, dachte ich darüber nach, was für ein Land das wohl ist, das sich der Professor da vorstellt.

Munich Colab: Geteilte Büroarbeitsplätze sind ein allgemeiner Trend. Foto: Constantin Mirbach

Es wäre ein Land, in dem nicht mehr geträumt werden darf, da zuerst alle Alltagsprobleme gelöst werden müssen. Aber ein Land, das nicht mehr träumt, hat auch keine Zukunft. Was heute als Größenwahn gilt, ist morgen eine Vision – und übermorgen vielleicht schon ein Alltagsprodukt. Wer Träume verhindert, verhindert Entwicklung.

Noch nie hat eine Gesellschaft ihre Gegenwart verbessert, indem sie sich ausschließlich mit ihr beschäftigt hat. Der Fortschritt – ob moralisch, politisch oder technisch – beginnt stets im Imaginären. Träume sind keine Flucht, sie sind Generalproben der Zukunft.

Wer die Zukunft verhöhnt, riskiert damit das größte Risiko der Gegenwart: ihre ewige Verlängerung.

Genau das ist ja das Problem der einst bewunderten Industrienation Deutschland. In zu vielen Feldern lebt die deutsche Wirtschaft von den großen Innovationen der Vergangenheit. Das verbrennergetriebene Auto haben deutsche Ingenieure perfektioniert. Als sich die Motoren nicht weiter optimieren ließen, entwickelten sie betrügerische Software, um die Fahrzeuge umweltfreundlicher aussehen zu lassen. Währenddessen lenkten Ingenieure in Shenzhen und im Silicon Valley ihre Kreativität längst darauf, elektrisch betriebene, autonome Fahrzeuge auf die Straßen zu schicken.

Die deutsche Wirtschaft hat so konzentriert daran gearbeitet, die Vergangenheit zu optimieren, dass sie den Blick für die Zukunft verloren hat. Und das lag nicht daran, dass es zu viele Träumer gibt, sondern zu wenige.

Das gilt auch für die Wirtschaftspolitik, deren wichtigstes Ziel es über Jahrzehnte war, alles dafür zu tun, dass es der Verbrenner-Industrie gut geht. Jahrzehnte, in denen Länder wie die USA, China, Israel und Südkorea systematisch breit angelegte Ökosysteme für Innovationen in Zukunftsfeldern wie Halbleiter, Biotech und Künstliche Intelligenz aufgebaut haben.

Die neue Bundesregierung geht mit ihrer Hightech-Strategie einen ersten Schritt. Es ist aber ein Fehler des Bundeskanzlers, dieses Thema nicht zur Chefsache zu machen. Mit einem Innovationsgipfel im Kanzleramt und einer eigenen Abteilung für strategische Zukunftsforschung, die sich mit der technologischen Zukunft Deutschlands beschäftigt.

Natürlich würden das Experten wie der zitierte Physikprofessor erst einmal kritisieren. Träumereien wirken im Hier und Jetzt weltfremd, manchmal abgehoben. Die Vorstellung, ins All zu fliegen zum Beispiel, galt bis Mitte des 20. Jahrhunderts selbst unter Wissenschaftlern als unmöglich. Pioniere wie der US-Physiker Robert Goddard wurden für ihre Visionen ausgelacht.

Die „New York Times“ veröffentlichte 1920 einen Artikel, in dem sie Goddards Idee von Raketen für den Weltraum ins Lächerliche zog. Das Blatt erklärte besserwisserisch, eine Rakete könne im luftleeren Raum niemals funktionieren, weil sie ja Luft brauche, um sich abzustoßen. Goddard fehle es an „grundlegendem physikalischen Verständnis“, so die NYT, die damit die vorherrschende Meinung widerspiegelte, dass Weltraumfahrt unmöglich sei.

Auch andere große Träume – von der Elektrizität, vom Fliegen, vom Internet – waren mal Hirngespinste in den Köpfen einiger weniger. Wer sich heute über Marskolonien oder Quantencomputer lustig macht, vergisst: Fast jede große Innovation war einmal eine Utopie.

Nur wer wagt, sich das Unmögliche vorzustellen, wird jemals das Mögliche erweitern. Deshalb ist es am Ende nicht die Träumerei, die uns gefährlich wird – sondern ihre Abwesenheit. Als Apple 2007 mit dem iPhone das erste Smartphone mit Touchscreen vorstellte, reagierten viele Branchenkenner skeptisch. Microsoft-CEO Steve Ballmer lachte über Apples Vorstoß und prophezeite: „Es gibt keine Chance, dass das iPhone jemals einen nennenswerten Marktanteil erlangt. Keine Chance.“ Es sei viel zu teuer und spreche höchstens eine Nische an. Microsoft steht heute blendend da. Aber alle späteren Versuche des Unternehmens, doch noch ins Smartphone-Geschäft einzusteigen, sind gescheitert.

Wenn wir Träumen misstrauen, weil sie nicht sofort die Welt retten, verlieren wir den Mut zum Möglichmachen. Ein Land, das aufhört, an große Projekte zu glauben, verliert seine Gestaltungskraft.

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Und ohne Gestaltung bleibt nur Verwaltung.

Erstpublikation: 05.09.2025, 09:32 Uhr.

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