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EditorialWährend Deutschland die Fassade renoviert, bröckelt das Fundament

Schwarz-Rot bringt ein milliardenschweres Investitionsprojekt auf den Weg. Aus einem guten Grund. Doch dabei gerät eines der größten Probleme in Vergessenheit.Sebastian Matthes 11.07.2025 - 14:03 Uhr
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Handelsblatt Chefredakteur Sebastian Matthes Foto: Max Brunnert für Handelsblatt

Nehmen wir an, Sie kaufen ein Haus. Die Fassade hat über die Jahre Risse bekommen, die tragenden Balken sind vom Wurm zerfressen, an den Kellerwänden steigt die Feuchtigkeit hoch. Im Treppenhaus begegnet Ihnen Markus Söder, der einen schicken Anbau aus Glas und Stahl empfiehlt – „denkt an die Mütter!“, ruft er. Lars Klingbeil klingelt und will sich Geld von Ihnen leihen: Er müsse rasch in den Baumarkt, da sei schon wieder eine Lücke aufgetaucht, die es zu schließen gelte. Und Friedrich Merz huscht murmelnd an Ihnen vorbei: „Tut mir leid, ich muss zu Macron – aber der Dachboden hat Potenzial!“

Nur einer fehlt in diesem Schauspiel: der Statiker. Während die Politik sich um Fassade und Dekor kümmert, stellt niemand die entscheidende Frage: Trägt das Ganze überhaupt noch?

Willkommen in der Wirtschaftspolitik des Jahres 2025!

An diesem Freitag winkt der Bundesrat ein historisches Schuldenpaket durch. Bis zum Ende der Legislaturperiode will die schwarz-rote Koalition eine kreditfinanzierte Rekordsumme von 850 Milliarden Euro ausgeben.

Der Impuls zu dieser fiskalpolitischen Wende ist nachvollziehbar. Die Risse im Gemäuer sind unübersehbar, und der Nachbar will sich nicht länger um den Gartenzaun kümmern.

Das Problem ist nur: Mit dem „Investitionsbooster“ hat sich die Bundesregierung vor allem eines gekauft – Zeit. Zwar finden sich unter den ersten wirtschaftspolitischen Entscheidungen der neuen Regierung einige sinnvolle Schönheitsreparaturen, wie unsere große Analyse zum Wochenende zeigt: Sonderabschreibungen für Unternehmen, steuerliche Begünstigung von Mehrarbeit. Doch um die tragenden Balken des Hauses kümmert sich bislang niemand.

Markus Söder, Friedrich Merz und Lars Klingbeil: Wo bleiben die Reformen der Sozialversicherung? Foto: Kay Nietfeld/dpa

Die Sanierung von Brücken, Schulen und Schienen ist längst überfällig. Doch der Kapitalstock der Privatwirtschaft – also die Fabriken, Anlagen und Labore – wird dadurch nicht moderner. Das müssen die Unternehmen selbst leisten. Pünktliche Züge und schnelles Internet sind zwar eine Voraussetzung dafür. Doch dauerhaftes Wachstum entsteht nur, wenn auch die Wirtschaft investiert – und zwar kräftig.

Erste Signale gibt es immerhin: Die Investitionsoffensive „Made for Germany“, angestoßen von Deutsche-Bank-Chef Christian Sewing und Siemens-CEO Roland Busch, ist so ein Beispiel. Eine Reihe großer Konzerne will sich zusammentun und Milliarden in Deutschland investieren – etwas, das viele zuletzt vermieden haben. Doch bislang bleibt es bei einer wohlklingenden Absichtserklärung, über die das Handelsblatt exklusiv berichtet hat.

Die entscheidende Frage bleibt offen: Werden aus guten Absichten auch konkrete Investitionen? Aus dem Kreis der Beteiligten der Initiative ist zu hören, dass dies maßgeblich davon abhängt, ob die Bundesregierung tatsächlich strukturelle Reformen angeht. Es liegt nun an der Bundesregierung, zu zeigen, ob sie wirklich eine Wirtschaftswende will oder mit den Milliarden nur den Stillstand dekoriert.

Die Lage ist jedenfalls ernst. Der einstige Globalisierungsgewinner Deutschland verliert jeden Monat mehr als Zehntausend Industriejobs.

In der aktuellen Debatte geht es viel um die Schulden, die unsere Kinder einmal erben. Dabei gerät oft in Vergessenheit, dass wir ihnen vor allem ein Sozialsystem hinterlassen, das sich kaum noch finanzieren lässt.

Besonders dramatisch ist die Lage bei der Rente. Jeder weiß: In den nächsten 15 Jahren gehen jährlich rund 400.000 Menschen mehr in den Ruhestand, als nachrücken. Doch statt gegenzusteuern, machen wechselnde Bundesregierungen seit Jahren Reformen rückgängig – und belasten das System zusätzlich mit Wahlgeschenken ohne Rendite. Stichwort: Mütterrente.

Und nun? Soll eine Kommission Reformideen entwickeln, was immer gut klingt. In der jüngeren Vergangenheit indes dienten solche Kommissionen oft dazu, „vor allem Zeit zu gewinnen, um nötige Reformen aufzuschieben“. So formulierte es diese Woche erst Bert Rürup, Ex-Chef der Wirtschaftsweisen, Rentenexperte und Handelsblatt-Chefökonom – kaum einer hat so viele Kommissionen geleitet wie er.

Dabei liegen die Lösungen längst auf dem Tisch: ein Rentenalter, das an die Lebenserwartung gekoppelt ist – wie in Dänemark. Eine verpflichtende kapitalgedeckte Zusatzsäule – wie in Schweden. Und der Verzicht auf teure Rentengeschenke, für die nie Beiträge gezahlt wurden.

Verfolgt man die wirtschaftspolitische Debatte dieser Tage, könnte man meinen, das größte Problem sei die ausgefallene Stromsteuersenkung. Im Einzelfall ärgerlich, sicher. Aber die 200 Euro pro Jahr, die vielen Menschen nun entgehen, sind nicht das große Thema. Viel entscheidender ist: Jobs, Kapital und Know-how wandern ab. Selbst das einst gerühmte Ausbildungssystem bekommt Risse. Universitäten verlieren im internationalen Vergleich. Fachkräfte fehlen – überall. Deutschland muss in den nächsten Jahren auch unkonventionelle Wege gehen.

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Neulich erzählte mir eine Managerin, die oft in Italien unterwegs ist: Sie treffe dort auffallend viele reiche Briten. Der Grund? Wohlhabende Ausländer zahlen dort nur einen vergleichsweise niedrigen Pauschalsatz. Warum reden wir in Deutschland nicht über solche Instrumente? Oder über vier Jahre Steuerfreiheit für Hochqualifizierte, die zu uns kommen? Oder über 100 neue Professuren für internationale Spitzenkräfte – ausgestattet mit Millionenbudgets?

Welchen Weg die Bundesregierung auch wählt: Deutschland braucht kein weiteres Jahrzehnt der Kommissionen. Es braucht ein Jahr der Ideen – und der Entscheidungen. Die Zeit der Schönheitsreparaturen ist vorbei.

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