Kommentar – Chefökonom: Geldpolitik braucht auch geopolitisches Augenmaß

Im zurückliegenden März lag die Inflation in Deutschland bei 2,2 Prozent. Damit liegt der Preisniveauanstieg nun bereits nahezu vier Jahre über dem Zielwert der Europäischen Zentralbank (EZB) von zwei Prozent – wenn man von zwei Sommermonaten im vergangenen Jahr absieht, in denen diese Marke kurzzeitig unterschritten wurde.
Ein ähnliches Bild ergibt sich, wenn man den gesamten Euro-Währungsraum betrachtet, wie es Aufgabe der EZB ist. Nur einmal lag die Inflationsrate in der harmonisierten Abgrenzung seit Sommer 2021 unter dem Zielwert von zwei Prozent.
Die vom ifo Institut erhobenen Preiserwartungen für die deutsche Volkswirtschaft signalisieren, dass der Anstieg des Preisniveaus auch in den kommenden Monaten weitgehend unverändert bei etwas mehr als zwei Prozent liegen wird. Und das Handelsblatt Research Institute erwartet in seiner aktuellen Konjunkturprognose, dass diese Rate bis zum Ende des Prognosezeitraums (2026) weiterhin über zwei Prozent liegen und im Jahresdurchschnitt jeweils 2,5 Prozent betragen wird.
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Grund für diese Entwicklung sind neben den kurzfristigen und schwer abschätzbaren Preisschwankungen bei Lebensmitteln und Energie mehrere Trends, die mittelfristig höhere Teuerungsraten als in der vergangenen Dekade signalisieren.
Trumps Zollpolitik verschärft die Probleme
Mit dem Beitritt Chinas zur Welthandelsorganisation (2001) und einer zügigen Integration der südostasiatischen „Tigerstaaten“ in den Welthandel wurde Europa mit preisgünstigen Konsumgütern überflutet. Darüber hinaus verlängerten viele europäische Unternehmen ihre Lieferketten gen Fernost. Preisgünstige Zulieferungen sorgten dafür, dass die Herstellungskosten tendenziell sanken oder zumindest nur wenig stiegen.
Seit den am Mittwoch dieser Woche verkündeten zollpolitischen Plänen des US-Präsidenten Donald Trump sind die Zeiten des weitgehend freien multilateralen Welthandels vorüber. Zölle, Gegenzölle und andere Handelsbeschränkungen stören internationale Lieferketten erheblich und verteuern Importe von Vorleistungen sowie Endprodukten. Die Mehrzahl der Hersteller wird bemüht sein, diese zusätzlichen Kosten über höhere Preise an die Verbraucher weiterzureichen – mit der Folge höherer Inflationsraten.
Zudem will Europa bis 2050 klimaneutral werden – Deutschland sogar bereits 2045. Die Politik in den Euro-Ländern setzt daher darauf, Energie aus fossilen Brennstoffen schrittweise zu verteuern. So stieg zur Jahreswende in Deutschland die CO₂-Abgabe auf Benzin, Diesel, Heizöl und Erdgas von 45 auf 55 Euro pro ausgestoßener Tonne.
Ab 2027 werden Gebäude- und Verkehrssektor in den europäischen Emissionshandel integriert. Dort gelten derzeit deutlich höhere CO₂-Preise, und durch eine Verknappung des Angebots werden diese Preise weiter steigen. Da zur Herstellung nahezu aller Produkte Energie erforderlich ist, schlagen höhere CO₂-Preise entlang der gesamten Wertschöpfungskette auf die Endverbraucherpreise und damit auf das Preisniveau durch.
Hinzu kommt, dass nicht nur in Deutschland, sondern in den meisten Ländern der EU die Bevölkerung altert. Bis zum Jahr 2070 wird der Anteil der Menschen im Alter von 65 und mehr Jahren kontinuierlich auf 30,5 Prozent steigen, 2023 betrug dieser Anteil noch 21,2 Prozent.
Die höchsten Quoten an 65-Jährigen und Älteren hatten Anfang 2023 Italien mit 24 Prozent, Portugal mit 23,9 Prozent sowie Finnland mit 23,1 Prozent. In Deutschland betrug dieser Anteil 22,2 Prozent. Im Jahr 2070 läge laut Eurostat-Vorausberechnungen Litauen mit 36 Prozent an der Spitze, gefolgt von Italien und Portugal mit 34 Prozent und Deutschland mit 29 Prozent.
Infrastrukturprogramme wirken preistreibend
Die Folge: Der Fachkräftemangel wird zu einem zentralen, das Wirtschaftswachstum dämpfenden Problem. Allein in Deutschland werden in den nächsten etwa 15 Jahren um die 400.000 mehr Menschen in den Ruhestand wechseln, als junge Erwerbstätige ins Erwerbsleben nachrücken. Dass diese Lücke durch Zuwanderung, Mobilisierung aus der stillen Reserve oder durch Produktivitätssprünge geschlossen werden kann, gilt als ausgeschlossen.
Ein knapper werdendes Arbeitsangebot führt zu Lohnsteigerungen, die sich in höheren Preisen von Waren und Dienstleistungen niederschlagen. In Deutschland kommt hinzu, dass als Folge des Inflationsschocks von 2022/23 ein Nachholpotenzial bei den Löhnen besteht. So lagen die Reallöhne 2024 in Deutschland auf dem Niveau des Jahres 2017. Der Druck der Beschäftigten auf die Gewerkschaften ist also hoch, kräftige Lohnsteigerungen durchzusetzen.
Schlussendlich werden das geplante überfällige Infrastrukturprogramm in Deutschland sowie die ebenfalls weitgehend schuldenfinanzierte Aufrüstung in der EU die Gesamtnachfrage erhöhen. Auch diese Programme werden preistreibend wirken.
Für die EZB wird es daher zunehmend schwerer, ihre Geldpolitik zu lockern. Andererseits würde eine Senkung der Leitzinsen die schwache Konjunktur im Euro-Raum stimulieren und es den Euro-Staaten erleichtern, die Transformation der Energieversorgung und die Modernisierung der Armeen zu bewältigen.
EZB steht vor einem Dilemma
Laut Bundesbank war der deutsche Staat 2024 mit fast 2,7 Billionen Euro verschuldet, die gesamte Euro-Zone mit mehr als 13 Billionen Euro. Würde die Durchschnittsverzinsung dieser Schulden nur um 0,1 Prozentpunkte sinken, würden die öffentlichen Haushalte um 13 Milliarden Euro pro Jahr entlastet.
Die EZB steht mithin vor einem veritablen Dilemma: Wenn sie ihrer Verpflichtung zu stabilen Preisen nachkommt und angesichts des anhaltend zu hohen Preisniveauanstiegs von einer weiteren Lockerung der Geldpolitik Abstand nimmt, konterkariert sie die Fiskalpolitik der demokratisch gewählten Regierungen der Mitgliedstaaten. Die Transformationsprozesse im Währungsraum würden erschwert.
Die EZB beeinflusst allerdings über Leitzinsänderungen unmittelbar nur den kurzfristigen Geldmarktzins. Die für die Finanzierung der Staatsschulden bedeutenderen mittel- und langfristigen Zinsen reagieren derzeit kaum auf die Geldpolitik. Für die Fiskalpolitik kommt es derzeit mehr auf die fundamentale Einschätzung ihrer Tragfähigkeit an.
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Die Führung der EZB ist sich offensichtlich bewusst, in welchem Dilemma die Geldpolitik steckt. Präsidentin Christine Lagarde wiederholt ihre bisherige Aussage nicht mehr, dass die Richtung der Zinspolitik klar sei. Wohl aber betonte sie eine hohe Unsicherheit.
Eine Patentlösung gibt es nicht. Einerseits ist der letzte deutlich unterschätzte Inflationsschub noch im Bewusstsein, andererseits wäre der Versuch, unter den gegenwärtigen geopolitischen Bedingungen die Inflation auf zwei Prozent zu drücken, mit sehr hohen politischen Risiken verbunden.
Kluge Geldpolitik erfordert nun einmal neben leistungsfähigen ökonometrischen Modellen auch ein gesundes Augenmaß für die weltpolitischen Herausforderungen der Staaten des Währungsraums.
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