Kommentar: Das Märchen von der sicheren Stromversorgung in Deutschland

Der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) hat zum Jahresende Bilanz gezogen. Dabei betonte BDEW-Hauptgeschäftsführerin Kerstin Andreae insbesondere die hohe Verlässlichkeit der Stromversorgung in Deutschland.
Tatsächlich mussten Stromkundinnen und -kunden hierzulande zuletzt im Durchschnitt nur 11,7 Minuten pro Jahr ohne Strom auskommen. Dieser Wert – in der Fachsprache als „System Average Interruption Duration Index“ (SAIDI) bezeichnet – ist im europäischen und erst recht im internationalen Vergleich hervorragend.
Die Botschaft, die davon ausgehen soll, ist eindeutig: Es läuft.
Zunächst ein Blick auf den SAIDI-Wert selbst: Erfasst werden ausschließlich Stromunterbrechungen mit einer Dauer von mindestens drei Minuten. Die zunehmende Zahl von Versorgungsunterbrechungen im Millisekundenbereich, die insbesondere für Unternehmen in Hightech-Branchen ein erhebliches Produktionsrisiko darstellen, bleibt dabei unberücksichtigt. Diese Risiken lassen sich nur durch aufwendige technische Gegenmaßnahmen begrenzen. Der SAIDI-Wert bildet somit lediglich einen Teil der Realität ab.
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Auch ein Blick auf einen anderen Indikator zeigt kein beruhigendes Bild: Die Zahl der Eingriffe in den Netzbetrieb nach § 13 Absatz 1 des Energiewirtschaftsgesetzes (EnWG) ist in den vergangenen Jahren exponentiell gestiegen. Dieser Paragraf regelt, wie Netzbetreiber vorgehen müssen, wenn die Sicherheit oder Zuverlässigkeit des Stromversorgungssystems gefährdet oder gestört ist.
Ein Glückwunsch gebührt den Netzbetreibern, denen es dank immer ausgefeilterer Technik und hoher Investitionen gelungen ist, die durch den wachsenden Anteil erneuerbarer Energien zunehmend volatile Stromerzeugung zu beherrschen. Das ist keineswegs selbstverständlich.
Ohne neue Kraftwerke wird’s eng
In diesen Kontext fällt auch das ernste Problem des Rückgangs steuerbarer Kraftwerkskapazitäten: Kohlekraftwerke werden stillgelegt, neue Gaskraftwerke entstehen kaum. Können die erneuerbaren Energien keinen nennenswerten Beitrag zur Stromerzeugung leisten, wird die Lage eng.
Die Bundesnetzagentur hat in ihrem jüngsten Versorgungssicherheitsbericht festgestellt, dass bis 2030 zwischen 22 und 36 Gigawatt (GW) neuer steuerbarer Kapazitäten benötigt werden – dazu zählen neben Kraftwerken auch Speicherlösungen. Die Bundesregierung plant zunächst, mit insgesamt zwölf GW gegenzusteuern. Grundsätzlich ist das löblich, doch es reicht nicht aus und kommt fünf Jahre zu spät – wofür die aktuelle Bundesregierung nur einen Teil der Verantwortung trägt.
Unterm Strich bleibt die Erkenntnis: Das Stromversorgungssystem ist so sicher wie die Rente – es steht unter Stress und wird immer wieder an seine Grenzen gebracht. Die Politik muss daher entschieden und schnell handeln.
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