KOMMENTAR – DER CHEFÖKONOM Steigende Preise, schwaches Wachstum: Deutschland droht eine grüne Stagflation

Längst fordern die Gewerkschaften für ihre Beschäftigten mit Blick auf die steigende Inflation höhere Gehälter. Setzt sich eine Lohn-Preis-Spirale in Gang?
Der Begriff Stagflation erinnert an das längst vertrieben geglaubte Gespenst der 1970er-Jahre, als infolge von Ölpreisschocks die Teuerungsraten in den Industrieländern in die Höhe schnellten und zugleich das Wirtschaftswachstum abgewürgt wurde.
Diesem Angebotsschock versuchte in Deutschland der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt mit Konjunkturprogrammen beizukommen, die darauf abzielten, fehlende private Nachfrage durch zusätzliche kreditfinanzierte staatliche Nachfrage zu ersetzen – vergeblich! Denn die damals noch starken Gewerkschaften konnten in der Erwartung weiter steigender Preise kräftige Lohnerhöhungen durchsetzen, die die Teuerung weiter befeuerten und eine Lohn-Preis-Spirale in Gang setzten.
Die einzige Chance der Bundesbank bestand darin, durch eine glaubwürdige und an etablierten Regeln orientierte restriktive Geldpolitik die Inflationserwartungen zu brechen – selbst um den Preis einer Rezession.
Heute, fast 50 Jahre später, überrascht es daher nicht, dass die EZB-Führung nicht müde wird zu betonen, die markanten Preisschübe in weiten Teilen der Euro-Zone seien vorübergehender Natur und erforderten keine Korrektur ihrer expansiven Geldpolitik. „Einige Einflussfaktoren dürften bald wieder verschwinden, etwa die preistreibenden Effekte, die sich aus gestörten Lieferketten ergeben oder aus der Rücknahme der Mehrwertsteuersenkung in Deutschland“, sagte Präsidentin Christine Lagarde. „Aus diesem Grund sollten wir jetzt nicht überreagieren.“
Nicht nur im inflationsphobischen Deutschland ist jedoch die Lesart verbreitet, die EZB weigere sich schlichtweg, die Realität anzuerkennen. Im September stiegen in Deutschland die Verbraucherpreise um stattliche 4,1 Prozent. Und der stärkste Preissprung der Großhandelspreise seit der Ölkrise 1974 zeigte, dass die Rückkehr zum bisherigen Mehrwertsteuersatz allenfalls ein kleiner Teil dieses Phänomens ist. Außerdem bestätigt der Preisanstieg im gesamten Euro-Raum von 3,4 Prozent, dass die Teuerungswelle keineswegs nur ein deutsches Problem ist.

Prof. Bert Rürup ist Präsident des Handelsblatt Research Institute (HRI) und Chefökonom des Handelsblatts. Er war viele Jahre Mitglied und Vorsitzender des Sachverständigenrats sowie Berater mehrerer Bundesregierungen und ausländischer Regierungen. Mehr zu seiner Arbeit und seinem Team unter research.handelsblatt.com.
Voraussichtlich kein vorübergehendes Phänomen
Überdies ist wenig wahrscheinlich, dass dies ein vorübergehendes Phänomen bleibt. So sind in einigen EU-Staaten die Gehälter im öffentlichen Dienst an die Inflation gekoppelt, und die ersten deutschen Gewerkschaften haben mit Verweis auf den Preisanstieg bereits kräftige Lohnerhöhungen gefordert. In der Bauwirtschaft droht gar der größte Streik seit zwei Jahrzehnten, mit dem die IG Bauen-Agrar-Umwelt ihrer Forderung nach 5,3 Prozent mehr Lohn Nachdruck verleihen will.
Angesichts des in vielen Branchen leer gefegten Arbeitsmarkts gibt es kaum Zweifel daran, dass die Gewerkschaften den „kräftigen Schluck aus der Pulle“ bekommen werden.
Hinzu kommt die für 2022 beschlossene Erhöhung des Mindeststundenlohns in zwei Stufen auf 10,45 Euro. Zudem dürfte die neue Bundesregierung weitere zügige Erhöhungen dieser Lohnuntergrenze in Richtung zwölf Euro in Aussicht stellen. Damit das Gehaltsgefüge erhalten bleibt, dürften merkliche Lohnanhebungen in den anderen Lohngruppen nicht lange auf sich warten lassen.
Inflationstreibend wirkt zudem, dass viele Mietverträge eine „Inflationsindexierung“ vorsehen. Auch viele Bestandsmieter werden daher bald mit spürbaren Mieterhöhungen rechnen müssen. Zudem ist es politisch gewollt, dass sich im Kampf gegen den Klimawandel viele Produkte spürbar verteuern. So hat die Bundesregierung zum Jahresbeginn eine neue CO2-Abgabe eingeführt, deren Höhe in den kommenden Jahren sukzessive steigen wird.
Ziel ist es, den Verbrauch fossiler Brennstoffe zu verteuern und damit einzuschränken. Die Abgabe macht nicht nur den direkten Energieverbrauch teurer. Infolge steigender Herstellungs- und Transportkosten dürften sich nahezu alle Güter des täglichen Bedarfs verteuern.
Hoffnung auf Innovationsschub
Nun mag die Hoffnung bestehen, ein beherztes Voranschreiten Deutschlands beim Klimaschutz könne zwar vielleicht nicht das Weltklima retten, wohl aber einen Innovations- und damit einen Wachstumsschub auslösen. Dies ist zwar möglich, aber keineswegs sicher. Schließlich ist die Historie voller Beispiele politischer Fehleinschätzungen, die fatale Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft hatten. Eine Garantie, dass die Dekarbonisierung zum Wachstumstreiber wird, gibt es also nicht.
Während dieses Experiment mit ungewissem Ausgang läuft, wird Deutschland ab Mitte des Jahrzehnts mit einem massiven Alterungsschub konfrontiert, der eine massive Wachstumsbremse darstellt. Stieg das Produktionspotenzial der deutschen Volkswirtschaft im vergangenen Jahrzehnt noch um knapp 1,5 Prozent jährlich, geht der Sachverständigenrat nunmehr davon aus, dass dieses Trendwachstum bereits bis Mitte dieses Jahrzehnts auf rund ein Prozent gesunken sein wird.
In zwei Jahren dürfte der Zenit bei der Beschäftigung überschritten werden. Und ab 2026 werden jährlich etwa 130.000 Personen aus dem erwerbsfähigen Alter ausscheiden, schätzt das Institut für Weltwirtschaft. Perspektivisch droht eine alterungsbedingte Stagnation – bei spürbar steigenden Preisen. Das Stagflationsgespenst kehrt zurück.
Sicher, die EZB ist machtlos gegen Inflationsimpulse, die durch Importe aus Fernost nach Europa herüberschwappen. Die Löhne in China, dem seit Jahren wichtigsten Lieferanten Deutschlands, sind kräftig gestiegen, sodass weitere Preissenkungen etwa für Alltagselektronik nicht zu erwarten sind. Und gegen den preistreibenden Rohstoffhunger Asiens kann die EZB ebenso wenig unternehmen wie gegen dauerhafte Preiserhöhungen für Halbleiter als Folge der aktuellen Chipkrise.
Eigentlich müsste die EZB gegensteuern – doch damit ist nicht zu rechnen
Doch eigentlich müsste die EZB sehr genau auf sich selbst verstärkende Zweitrundeneffekte achten und bei sich anbahnenden Lohn-Preis-Spiralen rechtzeitig gegensteuern. Damit ist jedoch nicht zu rechnen. Zu groß scheint die Angst der EZB-Spitze vor neuen Finanzierungsproblemen einiger südeuropäischer Euro-Staaten sowie vor Turbulenzen an den Finanzmärkten zu sein.
Außerdem hat sich die EZB einer „grüneren“ Geldpolitik verpflichtet, was es ihr erschwert, klimaschutzbedingte Teuerung zu bekämpfen. Ferner kann die EZB wenig dagegen unternehmen, wenn in Deutschland und anderen stark alternden Volkswirtschaften die Löhne nicht infolge kurzfristig überausgelasteter Kapazitäten, sondern wegen chronischen Fachkräftemangels dauerhaft steigen. Kurzum, die EZB wird selbst dauerhaft höheren Inflationsraten wenig entgegensetzen.
Das alles wissen die Geldpolitiker in Frankfurt natürlich auch. Mit ihrem scheinbar lediglich kosmetisch angehobenen neuen Inflationsziel haben sie sich jedoch die Möglichkeit geschaffen, über einen längeren Zeitraum höhere Teuerungsraten gesichtswahrend zu tolerieren. Denn das neue Inflationsziel von zwei Prozent ist symmetrisch: Verfehlte die EZB zwischen 2013 und 2020 ihr selbst gestecktes Inflationsziel Jahr für Jahr nach unten, könnte sie nun spiegelbildlich in der laufenden Dekade entsprechende Abweichungen nach oben tolerieren.
Die Ära sehr niedriger Inflationsraten dürfte sich daher ihrem Ende zugeneigt haben. Womöglich werden künftige Wirtschaftshistoriker den Corona-Ausbruch als Ende der Inflationsabstinenz bezeichnen.
Keine rosigen Aussichten für die nächste Bundesregierung
Für die nächsten Bundesregierungen sind das keine rosigen Aussichten. Zum einen trifft Inflation die wirtschaftlich Schwachen durchweg härter als die Stärkeren, was einen zusätzlichen sozialen Ausgleich erfordert. Zugleich bedingt das absehbar schwächere Wachstum, dass weniger Mittel verteilt werden können.
Zum anderen gilt es, durch bessere Angebotsbedingungen, also günstigere Abschreibungsregeln und moderat gesenkte Unternehmensteuern, das alternde Deutschland für internationale Investoren attraktiver zu machen, während gleichzeitig der Standort aber nicht durch einseitige Umweltauflagen unattraktiv gemacht werden darf.
Da die richtige Balance zu finden wird keine leichte Aufgabe. Viele Fehlversuche kann sich die zukünftige Regierung nämlich nicht leisten.
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