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KommentarDeutschland ist auf dem Weg zum kranken Mann Europas

Die Abstiegsrhetorik ist allenfalls in Teilen gerechtfertigt. Das eigentliche Problem: Der politische Druck ist ausgerechnet da gering, wo der Reformbedarf am größten ist.Julian Olk 31.08.2023 - 14:59 Uhr
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Die Bundesregierung sollte bei ihrer Klausur ab Dienstag in Meseberg dringend vorankommen.

Foto: dpa

Im Juni 1999 reichte dem „Economist“ die Stagnation eines Quartals, um die deutsche Wirtschaft zum „kranken Mann Europas“ zu erklären. Jetzt sind es drei Quartale in Folge, in der die Wirtschaft nicht gewachsen ist, und das internationale Wirtschaftsmagazin hat Deutschland erneut diesen Titel verliehen.

Mit Blick auf diese populären Parameter liegt die Diagnose des „Economist“ vielleicht nahe. Schließlich prognostiziert auch der Internationale Währungsfonds (IWF) für das Gesamtjahr unter den Industrienationen einzig für Deutschland eine Verringerung des Wirtschaftsleistung.

Doch die Sache ist komplexer: Volkswirtschaften sind immer mal wieder krank, erleben einen konjunkturellen Abschwung. Diese Krankheiten sind aber nur dann ein Problem, wenn sie chronisch werden. Wenn aus dem kurzen Abschwung eine anhaltende Wachstumsschwäche wird. Um diese Frage sollte sich die Debatte um den Standort Deutschland drehen.

Tatsächlich ist das deutsche Wachstum inzwischen seit drei Jahren schwach. Am Boden ist es aber erst seit drei Quartalen. Und dieser Zeitraum ist zu kurz, um ultimativ eine anhaltende Wachstumsschwäche festzustellen.

Es ist auch nicht so, dass alle anderen europäischen Staaten plötzlich kerngesund wären. Italien und Spanien profitieren derzeit von einem starken Tourismus. Doch der kaschiert die strukturellen Probleme allenfalls. Italiens Wirtschaft ist im zweiten Quartal um 0,3 Prozent geschrumpft.

Deutschland: Nicht nur das Wirtschaftswachstum krankt

Die Panik, die in vielen Äußerungen zum Ausdruck kommt, ist übertrieben. Sorgen aber sollten wir uns allemal machen. Erhält Deutschland nicht zeitnah die notwendige Medizin, wird unsere Wirtschaft unweigerlich chronisch krank.

Zwar hat Corona der deutschen Wirtschaft weniger geschadet als befürchtet, es gab im Nachhinein also nicht so viel Wachstum aufzuholen. Aber dieses Polster hat Deutschland längst aufgezehrt. Bewahrheitet sich die IWF-Prognose, steht die Bundesrepublik Ende 2024 gegenüber 2019 mit einer fast dreimal schwächeren wirtschaftlichen Entwicklung da als die Euro-Zone insgesamt.

Das Bedrohliche: Andere Parameter entwickeln sich kaum besser. Deutschland ist unproduktiv, die Infrastruktur marode und Energie teuer. All das führt dazu, dass das Potenzial der deutschen Wirtschaft immer weiter sinkt. Das Kiel Institut für Weltwirtschaft erwartet ein Trendwachstum bis 2027 von 0,4 Prozent pro Jahr. Bislang waren es im Durchschnitt 1,3 Prozent. Das ist die wahre Gefahr.

Die gute Nachricht: Fast all diese Probleme lassen sich lösen, und bei manchen passiert das bereits. Strom war in Deutschland schon immer teurer. Es geht nur darum, die Lücke nicht zu groß werden zu lassen. Das kann mit genügend Erneuerbaren und dem Streichen von Abgaben gelingen.

Für die Infrastruktur braucht es Geld und schnellere Verfahren. Und dass Deutschland Innovationen hervorbringen kann, ist unbestritten. Es braucht aber gute Rahmenbedingungen und Daten für die Forschung sowie einen Kapitalmarkt, der in der Lage ist, aus Ideen serienfähige Produkte zu machen.

Demografischer Wandel droht Deutschland zum kranken Mann zu machen

Doch selbst wenn all das bestmöglich gelöst wird, das entscheidende Problem ist ein anderes: Wenn es etwas gibt, das unser Leiden in eine chronischen Krankheit zu verwandeln droht, dann ist das der demografische Wandel.

Das Ausscheiden großer Kohorten aus dem Erwerbsalter in den nächsten Jahren ist entscheidend dafür, dass dem deutschen Trendwachstum der Einbruch droht. Die deutsche Wirtschaft würde laut Institut für Weltwirtschaft 2027 um rund einen halben Prozentpunkt schrumpfen, weil immer weniger Erwerbstätige immer mehr Rentner versorgen müssen (wenn man technologischen Fortschritt und Kapitaleinsatz als konstant annimmt). Tendenz steigend.

Das zeichnet sich bereits seit Jahrzehnten ab. Passiert ist kaum etwas. Das neue Gesetz der Ampel zur Fachkräfteeinwanderung ist ein Anfang, wird aber bei Weitem nicht reichen.

Die politische Trägheit in diesem Feld überrascht nicht. Je mehr potenzielle Wählerinnen und Wähler das Rentenalter erreichen, desto einfacher ist es, notwendige Reformen in diesem Bereich zu blockieren.

Die Wissenschaft hat längst sinnvolle Vorschläge gemacht. Doch die verhallen im politischen Raum, weil das Problem gesellschaftlich nicht anerkannt wird. Wenn eine Ökonomin ein späteres Renteneintrittsalter fordert, erntet sie einen Shitstorm. Es geht aber um die Sicherung unseres Wohlstands.

Konsens für unangenehme Reformen benötigt

Es braucht also einen gesellschaftlichen Konsens, dass Reformen in der Renten- und Steuerpolitik kein Angriff aus dem ökonomischen Elfenbeinturm sind. Dann wäre der Weg frei für die notwendigen Reformen: weg mit der „Rente mit 63“, Renteneintritt qua Lebenserwartung, weg mit dem Ehegattensplitting, Deutschland muss Einwanderungsland sein. Außerdem bräuchte der Bund mehr Kompetenzen bei der Bildung.

Bei der „Agenda 2010“, die den kranken Mann Deutschland in den Nullerjahren von seinem Leid befreite, gab es den gesellschaftlichen Konsens. Das Problem heute ist: Das Abstiegsgetöse ist laut, der direkte politische Handlungsdruck aber nicht, weil die Probleme sich nicht durch mehr Arbeitslosigkeit kanalisieren.

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Die Probleme sind zu abstrakt, als dass sie in der breiten Bevölkerung einen Reformruck auslösen würden. Eine paradoxe Situation, die uns tatsächlich in den nächsten Jahren den Titel als „der kranke Mann Europas“ einzubringen droht.

Erstpublikation: 28.08.2023, 17:37 Uhr.

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