Kommentar Die Börsen malen die Zukunft derzeit viel zu rosig

Wann gewinnen die Bären wieder die Oberhand?
Kaum ein Börsensprichwort ist so bekannt wie „Sell in May and go away“. Der Wonnemonat hat an den Börsen einen schlechten Ruf, weil die Kurse hier in der Vergangenheit oft überdurchschnittlich fielen. Der jetzt zu Ende gehende Mai schickt sich aber an, als einer der besten in die Geschichte einzugehen.
Rund acht Prozent hat Deutschlands Leitindex Dax bereits zugelegt, im amerikanischen S&P 500 sind es gut vier Prozent. Das ist vor allem deshalb erstaunlich, weil die Aktienmärkte schon im April so deutlich gestiegen sind wie selten. Der Dax gewann im April mehr als neun Prozent, der S&P 500 fast 13 Prozent.
Inzwischen haben die Indizes mehr als die Hälfte ihres historischen Einbruchs von Mitte Februar bis Mitte März wettgemacht. Das passt ganz und gar nicht zum wirtschaftlichen Umfeld.
Die Weltwirtschaft befindet sich als Folge der Corona-Pandemie in der schlimmsten Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Auswirkungen des globalen Lockdowns sind weitaus schlimmer als in der Finanzkrise, weil eben nicht nur der Bankensektor, sondern alle Branchen betroffen sind.
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Die Börsen tun aber so, als sei angesichts der Lockerungen das Schlimmste für die Unternehmen schon vorbei. Doch das stimmt nicht. Im ersten Quartal sind die Gewinne der Dax-Konzerne um ein Viertel und die der amerikanischen Firmen um fast 16 Prozent eingebrochen. Im zweiten Quartal werden sich die Folgen des erst ab Mitte März immer gravierender werdenden Lockdowns noch stärker in den Bilanzen niederschlagen.
Zwar stützen die Staaten und Notenbanken weltweit die Wirtschaft mit billionenschweren Hilfen und haben so ihren Teil zur Erholung an den Börsen beigetragen. Aber: Die Hilfen können den wirtschaftlichen Einbruch nur abfedern, nicht verhindern.
Dennoch steigen die Aktienmärkte immer weiter. Eine häufig dafür zitierte Erklärung lautet: Die Börsen nehmen die Zukunft vorweg. Das stimmt, aber: Die Börsen malen die Zukunft derzeit viel zu rosig.
Zu hohe Gewinnerwartungen
Das beste Beispiel dafür sind die erwarteten Gewinne der Unternehmen. Analysten gehen im Schnitt davon aus, dass die Konzerne im Dax und im S&P 500 im laufenden Jahr unter dem Strich nur gut 20 Prozent weniger verdienen werden als 2019. Noch frappierender: Für 2021 werden Gewinnsteigerungen von sage und schreibe 45 Prozent im Dax und 29 Prozent im S&P 500 erwartet.
Die Frage ist nur, wo die immensen Gewinnsteigerungen im kommenden Jahr herkommen sollen. Die Arbeitslosenquoten werden deutlich steigen, die Unsicherheit über die Arbeitsplätze wird anhalten. Verbraucher dürften aber erst wieder mehr konsumieren, wenn sie ihre berufliche Zukunft und damit ihre Einkommenssituation verlässlicher abschätzen können. Für Unternehmen heißt das: Die Nachfrage wird über das laufende Jahr hinaus gedämpft bleiben.
Die Margen und Gewinne der Unternehmen werden zudem noch länger unter Druck stehen, weil die Unterbrechung der Lieferketten die Vorteile der Globalisierung in Zweifel zieht. Der Welthandel war indes nach Ansicht von Ökonomen in den vergangenen Jahrzehnten einer der größten Produktivitätstreiber.
Steigende Insolvenzzahlen werden ausgeblendet
Außerdem fahren Unternehmen in Krisenzeiten ihre Investitionen zurück. Das senkt die Produktivität, verlangsamt Innovationen – und dämpft ebenfalls die Aussichten für die Börsen. Hinzu kommt: Viele kleinere börsennotierte Unternehmen werden die Krise nicht überleben und pleitegehen. Steigende Insolvenzen spiegeln die Börsen aber noch gar nicht wider.
Deshalb gilt: Die Rally an den Börsen ist trügerisch. Korrekturen sind überfällig. Das gilt auch dann, wenn es keine zweiten Covid-19-Infektionswelle gibt, die Weltwirtschaft nicht erneut mehr oder weniger komplett stillgelegt wird und es im nächsten Jahr tatsächlich den erhofften Impfstoff gegen die Lungenkrankheit gibt.
Zugegeben: Warnungen in diese Richtung gibt es schon länger – und Investoren, die Anfang des gefürchteten Börsenmonats Mai Aktien verkauften, ließen sich Gewinne entgehen. Und es gibt auch viele Argumente, die für langfristig steigende Börsen sprechen. Dazu gehören die noch auf Jahre anhaltenden Niedrigzinsen. Wer eine Chance auf Rendite haben will, kommt um Aktien oder auch andere risikoträchtigere Anlagen wie Unternehmensanleihen oder Private Equity nicht herum.
Dennoch: Weil die Börsen schon so weit vorausgelaufen sind und sich von den wirtschaftlichen Aussichten mehr oder weniger vollständig abgekoppelt haben, müssen sich Anleger auf Rückschläge an den Aktienmärkten einstellen. Im Nachhinein könnte es sich dann doch als gut herausstellen, Aktien im Mai verkauft zu haben.
Mehr: Goldman Sachs rät in der Krise zu Aktien von Firmen mit starken Bilanzen und stabilen Umsätzen.
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