Kommentar: Die Demokraten müssen ihre Komfortzone verlassen


Der AfD-Wähler findet sich in allen gesellschaftlichen Schichten, auch im Mittelstand.
Der Protest hüllt sich in den Mantel der AfD, während die großen Parteien ihren Anspruch verlieren, Vertreter des „Volks“ zu sein. Eine SPD mit 18 Prozent kann sich schwerlich Volkspartei nennen, auch der CDU fällt es zunehmend schwer. Das eine Phänomen hängt unweigerlich mit dem anderen zusammen. Und beide bergen große Gefahren.
CDU und SPD verlieren seit Jahren Mitglieder – und damit ihre Bindung in die Gesellschaft. Früher waren sie in jedem Sport- oder Schützenverein vertreten, in der Kirche, beim Kolpingwerk oder der Arbeiterwohlfahrt. Sie nannten sich zurecht Volksparteien, hatten das Ohr am Puls der Zeit und erfüllten ihre gesetzliche Aufgabe: Sie organisierten die politische Willensbildung, gossen Meinungen und Positionen in Programme und versuchten es dann in einer Regierung umzusetzen.
Der Kontakt zum Volk ist gestört. Einen Ausweg aus dem Dilemma haben die großen Parteien bis heute nicht gefunden. Stattdessen mühen sie sich in den sozialen Medien. Die aber taugen nicht für reflektierte Debatten. Facebook, Twitter und Co. sind perfekte Plattformen für Verführung und Populismus einer AfD, mit denen sie Frustrierte und Enttäuschte aus der Nische der Nichtwähler lockt und für sich gewinnt. Mindestens fünf der aktuell 18 Prozentpunkte fallen so allein auf das Konto der Rechtspartei. Den Rest verorten Experten bei Rechtsextremen und ewig Gestrigen. Sie lassen sich im politischen Diskurs nicht mehr überzeugen.
Es lohnt sich aber, um die anderen AfD-Wähler zu kämpfen. Dazu müssen sich zuvorderst die Parteien selbst verändern und vor allem jene Blasen verlassen, in denen sie sich bequem eingerichtet haben. Wie fatal Selbstreferenzialität ist, erleben die Grünen in diesen Wochen: Ihre vermeintliche Mehrheitsmeinung empfinden viele Menschen als radikal.
Alle Parteien, die großen zuvorderst, müssen neue Foren für offene Diskussionen schaffen. Darin muss ehrliche Sprache erlaubt sein, ohne dass gleich ein Shitstorm losbricht. Den lösen übrigens zu gern politische Gegner aus und erledigen damit das Geschäft der AfD. Wer verrohte Debatten beklagt, sollte zunächst selbst den respektvollen politischen Diskurs als Hochamt der Demokratie pflegen.
Politik von Menschen für Menschen
Debatten sollten im realen Leben stattfinden. Ein Blick in die Augen gehört ebenso dazu wie der Händedruck vor und nach dem Gespräch, ein Lächeln zwischendrin. Politik von Menschen für Menschen sollte das Motto lauten – erst recht in Zeiten der Umbrüche, der Ungewissheiten, der Ängste vor Krieg, dem Klimawandel und ja, für manchen auch vor dem Weltuntergang. Protest kann dann Verständnis weichen. Verständnis ermöglicht das Gespräch und damit die Chance, gemeinsam einen Kompromiss zu finden – die Lösung eines politischen Problems, auf die sich alle verständigen können.
Zugleich sollten Politiker wieder raus ins Leben, erst recht, wenn ihnen Berufs- und Lebenserfahrung fehlt. Sie sollten sich unters Volk mischen, wenn das Volk schon nicht mehr zu ihnen kommt. Der AfD-Wähler findet sich in allen gesellschaftlichen Schichten, auch im Mittelstand. Warum Zuwanderung, wenn die Deutschen doch bis 70 arbeiten können, lautete etwa kürzlich eine Frage bei einer Industrie- und Handelskammer in Ostdeutschland. An die Frage könnte sich eine Debatte anknüpfen.
Es ist die Pflicht einer jeden demokratischen Partei, um Protestwähler zu kämpfen. Mit jedem Prozentpunkt mehr steigt die Chance der AfD, in den Parlamenten stabile Koalitionen zu verhindern und damit Chaos zu stiften. In Thüringen ist es schon geschehen. 2024 wird dort ein neuer Landtag gewählt, auch in Sachsen und Brandenburg. Die Rechten marschieren dort stramm Richtung 30 Prozent und Mehrheit. Und dann?
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