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  4. Corona-Krise: Die Kritik am Krisenmanagement der Bundesregierung ist völlig unverhältnismäßig

KommentarDie Empörungswelle über die Corona-Politik trägt Züge von Trumpismus

Deutschland hat die Pandemie bisher recht gut gemeistert. Die harsche Kritik am staatlichen Krisenmanagement ist unverhältnismäßig. Denn: Der Staat, das sind wir alle.Martin Greive 05.01.2021 - 17:57 Uhr Artikel anhören
Foto: Burkhard Mohr für Handelsblatt

Noch bis vor wenigen Wochen galt Deutschland als Musterland in Sachen Corona-Bekämpfung. Organisiert, wissenschaftsbasiert und mit ruhigem Kopf agierend – mit diesen drei Attributen feierte die ganze Welt das deutsche Krisenmanagement.

Doch seit der Impfstoffdebatte zum Jahresende heißt es plötzlich: Debakel, Desaster, Versagen – kein Superlativ ist zu gewagt, um die Fehler der Politik bei der Beschaffung des Impfstoffs zu beschreiben. Jeder geht auf jeden los. Bund gegen Länder, Union gegen SPD, und alle gegen die EU.

Die jüngste Verlängerung des Lockdowns und die absehbaren Verschärfungen werden die Emotionalität in der Debatte noch einmal anheizen. Es schwappt eine völlig unverhältnismäßige Empörungswelle durchs Land, die in ihren Mechanismen schon Züge des Trumpismus trägt.

Eine aufgeregte Öffentlichkeit bläst nach allen Künsten der Aufmerksamkeitsökonomie Vorgänge zu Skandalen hoch, die keine sind. Und die Politik begeht den Fehler, auf der Welle mitzureiten.

Union und SPD nutzen die Impfstoffdebatte als Auftakt für das Wahljahr 2021 und blasen zum großen Angriff auf den politischen Gegner. Dabei vergessen sie allerdings, dass sie eine ungleich höhere Verantwortung tragen als üblich. Am Ende untergraben sie so selbst die Glaubwürdigkeit ihrer bislang soliden und rationalen Krisenpolitik.

Natürlich hat die Politik in der zweiten Corona-Welle Fehler gemacht, schwere Fehler. So hätte die EU mehr Impfstoff bestellen müssen. Bund und Länder hätten Altenheime stärker schützen, Schulen und Kitas besser auf einen zweiten Lockdown vorbereiten und Wirtschaftshilfen schneller auszahlen müssen. Das alles muss klar benannt und kritisiert werden. Aber diese Versäumnisse rechtfertigen nicht die neue Maßlosigkeit der Kritik.

Europäisches Vorgehen alternativlos

Auch für die Politik ist die Pandemie eine einzigartige Krise, durch die sie sich nur mittels „Versuch und Irrtum“ vortasten kann. Aber man muss nicht einmal dieses Argument bemühen, um zu erkennen, wie sehr in den vergangenen Tagen die Maßstäbe verrückt sind.

Beispiel Impfstoff: Bundesregierung und EU stehen am Pranger, weil die Nationalstaaten die Beschaffung zuerst an die EU abgetreten haben und diese dann zu wenig bestellt hat. Vor allem, weil Frankreich zugunsten des heimischen Herstellers Sanofi intervenierte.

Was die Kritiker übersehen: Bei der Beschaffung des Impfstoffs koordiniert vorzugehen war durchaus richtig, wenn einem an dem Zusammenhalt der EU irgendetwas liegt. Und vergessen wird in der Rückschau auch gern: Dass das Mittel von Sanofi so wenig taugt, war nicht abzusehen.

Es gab zu Beginn sogar einen Hype um genau diesen Impfstoff. Und selbst wenn nicht die EU, sondern die „Impfallianz“ aus vier EU-Staaten Mittel bestellt hätte, hätte das wohl wenig geändert. Denn neben Deutschland gehörte auch Frankreich der Allianz an.

Beispiel Bildungspolitik: Eltern klagen zu Recht darüber, dass die Politik Schulen und Kitas im ersten Lockdown zu wenig priorisierte und auf den zweiten zu wenig vorbereitete. In Berlin etwa stürzte der Server für Homeschooling nach Ferienende direkt ab.

In anderen Ländern ist das Krisenmanagement nicht besser

Aber: Immerhin steht die Öffnung von Kitas und Schulen für die Politik bei einer Lockerung der Maßnahmen jetzt glaubhaft an erster Stelle. Und bei allem berechtigten Frust: Die jahrelangen Versäumnisse in der digitalen Bildung lassen sich nun mal nicht binnen weniger Monate reparieren. Das macht die Lage nicht besser, aber die Probleme sind vor allem struktureller und kultureller Natur, sie werden in der Krise jetzt nur überdeutlich.

Ein Blick über die Landesgrenzen zeigt zudem: In anderen Ländern läuft das Krisenmanagement nicht besser. In den USA gibt es trotz früher Impfungen Rekordwerte bei Neuinfektionen. Die britische Regierung verhängt gerade über das ganze Land einen neuen Lockdown, Israel ist noch mittendrin. Selbst die asiatischen Länder erleben mit Ausnahme Chinas gerade Rückschläge.

Deutschland schneidet im Ranking der am wenigsten betroffenen Länder trotz der heftigen zweiten Welle bei Infektionsraten und bei den Todesfällen im Verhältnis zur Bevölkerungszahl ordentlich ab – auf Platz 14 weltweit. Und ökonomisch steht das Land besser da als alle anderen großen Industrienationen.

Kulturkampf um Deutungshoheit der Krisenpolitik

Der Unterschied zum Frühjahr ist, dass Deutschland nicht mehr das einstige Musterland ist. Dies mündet aufgehängt an der Impfstoffdebatte direkt in einer Hysterie, die es in dieser Intensität kaum woanders gibt. Mitten in der Krise hat bereits ein Kulturkampf um die Deutungshoheit der Krisenpolitik begonnen, die zu beleuchten eher Sache von Historikern wäre.

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Was das Land jetzt viel mehr braucht, sind kühle politische Köpfe, die die Bürger besonnen durch diese Krise bringen. Genau diese Stärke des deutschen Krisenmanagements droht sich aber umzukehren, wenn nun Nervosität regiert.

Die überzogene Kritik am Staat macht es den Bürgern zudem einfach, ihre eigene Verantwortung im Privaten auf die Politik abzuwälzen, nach dem Motto: „Hätten Bund und Länder vernünftige Regeln gesetzt, wäre ich halt nicht in einem Pulk von Menschen den Berg hoch zum Rodeln.“ Bei aller Ereiferung geht dabei eines nur unter: Der Staat, das sind wir alle.

Mehr: Der Staat zeigt ein drastisches Ausmaß an Missmanagement in der zweiten Corona-Welle

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