Kommentar: Die Lieferengpässe gefährden auch das deutsche Wachstum

Spätestens vor Weihnachten drohen auch in Deutschland Engpässe beim Nachschub.
Bei den Fernsehbildern aus Großbritannien stellt sich bei manchen Deutschen derzeit wohl etwas Schadenfreude ein: Autoschlangen an den Tankstellen, Briten, die sich vor Zapfsäulen um einen Kanister Benzin prügeln, leer geräumte Regale in Supermarktketten wie Tesco oder Sainsbury’s. Weil das Land ausländische Lkw-Fahrer nach dem Brexit von der Insel drängte, musste London das Militär rufen, um die bedrohlichen Versorgungsengpässe zu beheben. Schließlich fehlen nun 100.000 Trucker im Land.
Zu laut aber sollten Hohn und Spott auf der Gegenseite des Ärmelkanals nicht werden. Denn spätestens vor Weihnachten drohen auch hierzulande Engpässe beim Nachschub. Ebenfalls in Deutschland, warnen Speditionsverbände, fehlen 60.000 Lastwagenfahrer – eine Lücke, die jährlich durch Pensionierungen um weitere 15.000 Fahrer wächst.
Der entscheidende Unterschied allerdings: Nicht politische Kamikaze-Aktionen wie der Brexit sind schuld an der Misere, sondern das genaue Gegenteil. Nach dem Abflauen der Coronapandemie wächst das Auftragsvolumen in den deutschen Unternehmen weitaus schneller als geplant, Nachholeffekte treiben manche Privathaushalte in einen ungeahnten Kaufrausch.
Die Lieferketten, im Frühjahr 2020 meist in den Sparmodus versetzt, scheinen dem Ansturm aktuell nicht gewachsen. Über Deutschlands größte Frachtbörse Timocom wurden von April bis Juni 2021 251 Prozent mehr Ladungen abgewickelt als im Lockdown-geschädigten Frühjahrsquartal 2020. Selbst das dritte Quartal 2021 lag noch 51 Prozent über Vorjahr.
Damit aber droht Deutschlands Konjunktur an ihrer eigenen Stärke zu ersticken. Erreichen Elektronikwaren, Verpackungen, Bauholz oder andere Vorprodukte nicht pünktlich ihre Abnehmer, wackeln in den Unternehmen Umsatz und Gewinn – am Ende sogar Arbeitsplätze und Kaufkraft.
Deutsche Unternehmen könnten die großen Verlierer sein





Als gesichert gilt: Die Preise gehen in die Höhe. Hafengebühren für festsitzende Container, kostspielige Warenläger, die die übliche Just-in-time-Lieferung ersetzen, explodierende Frachtraten und die mit ihnen steigenden Importzölle – das alles wird sich auf die Regalpreise in den Läden niederschlagen.
Und es könnte noch schlimmer kommen: Führen die andauernden Logistikengpässe zu einer schwindenden Globalisierung, zählen Deutschlands Unternehmen an vorderster Stelle zu den Verlierern. Nicht nur ihre Beschaffung würde teurer, auch als Lieferanten fielen sie in entfernteren Teilen der Welt aus. Doch Berlin reagiert dabei nicht anders als London: mit Tatenlosigkeit.
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