Kommentar: Europa ist stärker als sein Ruf – Zeit für eine Verteidigungsrede


Nach Wochen der Kritik aus den USA ist es Zeit für eine Verteidigungsrede: Europa ist stärker, als sein Ruf vermuten lässt – und es hat die Voraussetzungen, um langfristig erfolgreicher zu sein als China und die Vereinigten Staaten.
Elon Musk mag die Abschaffung der EU fordern, Donald Trump Europa als „sterbend“ und „schwach“ verunglimpfen – doch es sind die Vereinigten Staaten, die in diesem Jahr zum ersten Mal seit ihrer Gründung eine schrumpfende Bevölkerung verzeichnen werden. Trump macht Amerika nicht „great“, sondern kleiner.
Stellen Sie sich eine einfache Frage: Wo würden die meisten Menschen, wenn sie die Wahl hätten, am liebsten leben, arbeiten und eine Familie gründen? In China? In den USA? Natürlich in Europa.
Die Kritik aus den USA an Europa ist deshalb eigentlich selbstbezogen. Sie zeugt von der tiefen Verunsicherung eines Landes, das an Strahlkraft verliert.
Wir sind der attraktivste Kontinent – und diese Stärke sollten wir noch viel selbstbewusster nutzen, um Talente, Forschende und Fachkräfte anzuziehen, während die US-Regierung sie vergrämt.
Europäer leben im Schnitt vier Jahre länger als US-Bürger. Schon das ist ein Argument, das jeden amerikanischen Politiker rot vor Scham werden lassen sollte – es zeigt, dass unser System besser funktioniert. Wir zahlen zwar mehr Steuern, aber wie ein amerikanischer Kollege sagte: „You get what you pay for.“
Was nützen höhere US-Gehälter, wenn man einen Großteil des Einkommens für teure Krankenversicherungen, Kredite und schlechtes Essen ausgeben muss, weniger Freizeit hat und am Ende auch noch früher stirbt? Das fragen sich inzwischen viele Amerikaner selbst.
Doch Europäer leben nicht nur länger. Auch nach anderen Maßstäben geht es uns besser: Die Mordrate in den USA ist achtmal höher als in Europa. Und Amerikaner nehmen nicht nur rund 50 Prozent mehr Antidepressiva; sie haben auch eine um 40 bis 50 Prozent höhere Suizidrate.
Man kann darüber spekulieren, woran das liegt: Europäer verfügen über einen stärkeren sozialen Zusammenhalt, leistungsfähige Bildungs- und Gesundheitssysteme, schönere und lebenswerte Städte und Dörfer sowie eine stabilere Mittelschicht. Das hängt auch damit zusammen, dass Europa – anders als die USA – in den 1980er- und 1990er-Jahren seine Industrie nicht aufgegeben hat im Irrglauben, ein ganzer Kontinent könne allein von Dienstleistungen leben.
Darauf sind Trumps Republikaner neidisch
Auch darauf sind Trumps Republikaner neidisch. Nicht nur Vizepräsident J.D. Vance beklagt in seinem Buch den Zusammenbruch sozialer Strukturen als Folge des Niedergangs der Industrie. Auch Trump selbst betont immer wieder, er verstehe nicht, warum deutsche Autos in den USA so erfolgreich seien, während amerikanische Modelle in Europa floppten.
Nun versuchen die USA mit Dirigismus und protektionistischen Zöllen, eine industrielle Basis wiederaufzubauen. Doch das Know-how und die Arbeitsplätze, die einmal verloren sind, kehren nur schwer zurück – das spürt die US-Politik gerade schmerzhaft.
Obwohl Trump europäische Regulierungen kritisiert, bewundert er sie auch: Wiederholt stellte er verärgert fest, dass Medikamente in den USA viel teurer sind als in Europa. So koste das Abnehmmittel Ozempic in Europa nur 88 Dollar. „In New York kostet das 1300 Dollar. Was zum Teufel ist hier los? Es ist die gleiche Schachtel, in der gleichen Fabrik hergestellt, von derselben Firma. Das ist eine verrückte Situation, die wir hier haben. Die Pharmafirmen können das nicht länger rechtfertigen“, schimpfte er. In Europa sind Medikamentenpreise niedriger, weil unsere Staaten sie regulieren und zentral verhandeln.
Europäische Politiker „reden zu viel“ – da hat Trump wahrscheinlich recht. Doch unser politisches System ist demokratischer und beweist immer wieder eine erstaunliche Anpassungsfähigkeit, weil es Kompromisse ermöglicht.
Kurz vor Jahresende sollten wir deshalb innehalten, auf die Kraftanstrengungen der vergangenen Jahre blicken, und uns auf die Schulter klopfen:
Wir haben die Coronakrise weit geeinter und erfolgreicher überstanden als die USA oder China. Darauf können wir stolz sein.
Wir haben es binnen zwei Jahren geschafft, uns von russischem Öl und Gas zu entkoppeln – zu erheblichen Kosten für Unternehmen und Haushalte, aber anders als von Wladimir Putin erwartet, ist die Energieversorgung in keinem Moment zusammengebrochen.
Jetzt finanziert Europa die größte Aufrüstung seit dem Zweiten Weltkrieg und unterstützt nicht nur weiterhin die Ukraine, sondern trägt auch den wegfallenden amerikanischen Anteil.
Drei Herkulesaufgaben in weniger als fünf Jahren. Und dennoch liegt die Schuldenquote in der Euro-Zone mit 88 Prozent klar unter der der USA von 125 Prozent des BIP. Europa hat Enormes gemeistert und ist dabei seinen Werten treu geblieben.
Auch ein kurzer Blick in die jüngere Vergangenheit hilft: Auf den Abgesang Deutschlands als „kranker Mann Europas“ in den 2000er-Jahren folgten die Reformen der Agenda 2010 sowie ein 15 Jahre währender Aufschwung mit sinkender Arbeitslosigkeit – unterbrochen nur durch die Finanzkrise, die durch fehlgeleitete Politik in den USA ausgelöst wurde.
Momentan stehen die USA wegen ihrer starken Digital-Konzerne zwar wirtschaftlich besser da. Doch Ökonomen warnen bereits vor einem möglichen Platzen der KI-Blase oder sogar vor einer amerikanischen Schuldenkrise, denn die Staatsverschuldung wächst weiter – trotz einer Kürzung des US-Bildungsetats um 87 Prozent, die das Land langfristig schwächt.






Russlands Krieg und Trumps Angriff auf unsere Demokratie sind zweifellos eine große Gefahr für dieses erfolgreiche Europa. Zugleich bergen sie jedoch das Potenzial, die EU weiter zu stärken. Zum ersten Mal seit dem Kalten Krieg wird Europa wirtschafts- und sicherheitspolitisch gerade zu einem eigenständigen Akteur.
Selbst die baltischen und osteuropäischen Staaten suchen ihre Sicherheit nicht mehr jenseits des Atlantiks, sondern in einer starken und militärisch unabhängigen EU. Das muss nur noch bei unseren Nato-Verantwortlichen und deutschen Politikern ankommen, die allzu oft in das Denkmuster verfallen, in den USA den „Daddy“ zu sehen.
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