Kommentar: Flugzeugentführung von Minsk: Europa braucht neue Instrumente im Kampf gegen autoritäre Staaten

Die Europäische Union hat überraschend schnell auf die Entführung der Passagiermaschine reagiert.
Brüssel. Es geht doch: Von einem menschenverachtenden Regime herausgefordert, hat die Europäische Union Handlungsfähigkeit bewiesen. Die Staats- und Regierungschefs der EU reagierten auf die Entführung eines europäischen Linienflugzeugs durch die Schergen des weißrussischen Diktators Alexander Lukaschenko mit beachtlichem Tempo und überraschender Entschlossenheit.
Kaum 24 Stunden nach der Zwangslandung eines Ryanair-Flugzeugs in Minsk verständigten sich die Europäer auf neue Sanktionen. Der europäische Luftraum wird für weißrussische Airlines gesperrt, der weißrussische Luftraum zum Gefahrengebiet erklärt. Die bestehenden Vermögenssperren gegen Staatskonzerne und Günstlinge des Regimes sollen ausgeweitet, darüber hinausgehende Wirtschaftssanktionen vorbereitet werden. Die oft entscheidungsschwache EU hat es ihren Kritikern gezeigt.
Natürlich ist klar: Lukaschenko hat den Europäern praktisch keine andere Wahl gelassen. Die Entführung einer europäischen Linienmaschine stellt einen so schwerwiegenden Bruch internationaler Konventionen da, dass eine scharfe Antwort zwingend erforderlich war. Bisher dienten Sanktionen gegen das weißrussische Regime der Ächtung Lukaschenkos und seiner Terrorkampagne gegen die eigene Bevölkerung. Die neuen Strafmaßnahmen sind nun eine Reaktion auf eine veränderte Situation.
Die Verfolgung der Demokratiebewegung in Weißrussland ist nicht mehr nur ein Verstoß gegen europäische Werte. Sie ist zur Bedrohung der europäischen Sicherheit geworden. Denn der Ryanair-Flug FR4978 war innerhalb Europas unterwegs, zwischen Athen und Vilnius. Seine mit Militärgewalt erzwungene Umleitung war damit ein Angriff eines Drittstaats auf die Souveränität Europas und ein Anschlag auf die Bewegungsfreiheit der Europäer. Ein feindseliger Akt.
Auch deshalb gab es keine längeren Kontroversen über das neue Sanktionspaket im Kreis der sonst oft zerstrittenen EU-Staaten. Fraglich ist nur, ob sich Lukaschenko davon beeindrucken lässt. Der Entscheidung, die Passagiermaschine zur Landung zu zwingen, um einen Dissidenten festzunehmen, lag offenbar das Kalkül zugrunde, dass ihm die europäischen Sanktionen nicht viel anhaben können.
Ein Embargo würde die Zivilbevölkerung treffen
Die EU befindet sich in einem Dilemma: Ihre Sanktionen sollen nicht pauschal die weißrussische Wirtschaft in den Ruin treiben, sondern sich gezielt gegen das Regime und seine Unterstützer richten. Ein umfassendes Embargo würde den weißrussischen Staat womöglich in den Ruin treiben, aber zunächst würde es die weißrussische Zivilbevölkerung treffen, die die Europäer ja eigentlich schützen sollen.
Es zeigt sich, dass die EU neue Instrumente für den Kampf gegen die zunehmend aggressiv auftretenden autoritären Staaten an ihren Außengrenzen braucht. Der neue US-Präsident Joe Biden hat erste Vorschläge zum Kampf gegen den Autoritarismus und zur Stärkung der Demokratie gemacht, die die Europäer dringend aufgreifen sollen.
Von entscheidender Bedeutung ist für Biden die Trockenlegung von Steueroasen, die Autokraten zur Aufrechterhaltung ihrer Günstlingswirtschaft nutzen. „Auf internationaler Ebene werde ich Bemühungen anführen, Transparenz in das globale Finanzsystem zu bringen, gegen illegale Steuerparadiese vorzugehen, gestohlenes Vermögen zu beschlagnahmen und es Regierungschefs, die ihre Bürger bestehlen, erschweren, sich hinter anonymen Tarnfirmen zu verstecken“, versprach Biden im vergangenen Jahr, als er um den Einzug ins Weiße Haus kämpfte.
Seither ist nicht mehr viel geschehen. Die US-Regierung hat derzeit andere Prioritäten. Sie hat nur vage Ziele formuliert, kein präzises Konzept vorgelegt. Diese Leerstelle müssen die Europäer mit eigenen Vorschlägen füllen, um die Autokraten, die Europas Sicherheit bedrohen, in die Schranken zu weisen.
Letztlich ist Lukaschenko nur ein Vasall Wladimir Putins, die abgewirtschaftete weißrussische Diktatur bloß ein Marionettenregime; einzig die Verbindungen zum Kreml vom Kollaps bewahren es vor dem Kollaps. Es ist Putin, der den demokratischen Wandel in seinem Nachbarland aufhält – weil er um seine eigene Macht fürchtet. Und es ist Putin, der es meisterhaft versteht, sein Herrschaftssystem mit verborgenen Finanzdeals abzusichern.
Die Enthüllung der FinCEN-Files haben im vergangenen Jahr gezeigt, wie russische Oligarchen westliche Sanktionen umgehen, teils mit Hilfe westlicher Banken, wie sie legal und illegal Einfluss in Europa einkaufen.
Hier muss der Kampf gegen Autokraten ansetzen: bei Briefkastenfirmen, geheimen Konten und Steueroasen, bei den verborgenen Geldflüssen, die zu Geldwäsche und Korruption genutzt werden, Demokratien von innen heraus schwächen und Diktatoren bereichern. Gerade die EU steht in der Verantwortung, weil Länder wie Zypern lange als Umschlagplatz für russisches Kapital dienten.






Bundesaußenminister Heiko Maas und sein US-Amtskollege Antony Blinken haben am Montag verabredet, die Reaktion auf die Entführung der Ryanair-Flug 4978 „eng abzustimmen“. Das reicht nicht. Es ist Zeit, eine gemeinsame Initiative für ein transparentes Finanzsystem zu starten.





