Kommentar: Südkorea tauscht Daten gegen Bewegungsfreiheit – daraus kann Deutschland lernen

Mithilfe von Handydaten sollen in Südkorea auch ohne Ausgangssperren die Infektionsketten unterbrochen werden.
Südkoreas Sonderweg in der Coronavirus-Pandemie zeigt, warum Europas gemeinsame Handyplattform Pepp-pt ein Schritt in die richtige Richtung ist. Mit Apps, die auf der Plattform aufsetzen, sollen Nutzer unter dem Schutz ihrer Privatsphäre nachvollziehen können, wen sie in den vergangenen zwei Wochen getroffen haben. Mithilfe von Hightech sollen dann auch ohne Ausgangssperren die Infektionsketten unterbrochen werden.
Wie das funktionieren kann, hat Südkorea schon lange bewiesen. Rasch lag das Land mit mehr als 8000 identifizierten Fällen hinter China auf dem zweiten Rang. Aber genauso schnell gelang den Behörden, durch Handytracking und andere Methoden die Virenherde einzudämmen, bevor sie sich weiter ausbreiten konnten. Inzwischen schwankt die Zahl der aufgespürten Infizierten seit 20 Tagen um täglich 100 Personen.
Für diesen Erfolg haben die Bürger sogar eine zeitlich begrenzte Durchlöcherung ihrer Privatsphäre akzeptiert. Denn im Gegenzug konnten sie viele Freiheitsrechte bewahren, die in Europa Ausganssperren zum Opfer fallen.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Auch in Südkorea schränken sich die Bürger ein. Die Schulen sind geschlossen und werden es voraussichtlich auch im April noch bleiben. Viele Menschen arbeiten zu Hause, gehen kaum mehr aus.
Aber im Prinzip können sich die Menschen frei bewegen, Unternehmen arbeiten, viele Geschäfte sind grundsätzlich geöffnet. Selbst die Virenhochburg Daegu war niemals gänzlich abgeriegelt wie das chinesische Epizentrum Wuhan oder norditalienische Städte. Denn die Gesundheitsbehörden konnten die Epidemie bremsen.
Vorsichtsmaßnahmen: Krisenpläne und Gesetze
Verantwortlich für den Erfolg ist Koreas gute Vorbereitung auf die Pandemie. Wie Singapur, Hongkong und Taiwan hat auch die zwölftgrößte Wirtschaftsmacht der Welt nach den Coronavirus-Erkrankungen Sars und Mers Krisenpläne und neue Gesetze entwickelt.
Das Ziel ist ambitioniert: So sollten epidemiologische Holzhammermethoden von vor 100 Jahren wie flächendeckende Ausgangssperren durch den chirurgischen Einsatz von Technik ersetzt werden, um so nicht nur Menschenleben, sondern auch die Wirtschaft zu retten.
Der Aufwand ist groß: Zum Maßnahmenkatalog gehören nicht nur Masken und die massenhafte Verteilung von Desinfektionsmitteln in Bürogebäuden, Bussen und an Laternenmasten, sondern vor allem ein massives Testprogramm. Mit dem versuchen die Gesundheitsbehörden, rasch Fälle zu identifizieren, Infektionsketten zu verfolgen und dann mit der Isolierung von Erkrankten und Verdachtsfällen zu unterbrechen.
Gesetze und Technik spielen bei diesem Testkrieg gegen das Virus die größte Rolle. Mit dem Gesetz zur Kontrolle und Prävention von Infektionskrankheiten gestattete das Parlament dem Gesundheitsministerium einen raschen Zugriff auf private Daten aller Bürger. So können die Behörden ohne Durchsuchungsbefehle die Positionsdaten der Mobiltelefone von potenziellen und nachweisbar Erkrankten sammeln.
Außerdem dürfen Kamerabilder und Kreditkartendaten analysiert werden, um genaue Bewegungsprofile zu erstellen. Mit Erfolg: So konnten bisher rasch mögliche Kontaktpersonen von Infizierten sowie größere Infektionscluster identifiziert und kontrolliert werden.
Datenschutzrechtliche Gratwanderung
Allerdings ist Koreas System ist eine datenschutzrechtliche Gratwanderung. Da Zeit in diesem Fall Menschenleben bedeutet, ist die Teilnahme anders als bei der europäischen Idee nicht freiwillig. Die Gesetzgeber haben den Behörden nicht nur grundsätzlich den Zugriff auf alle Smartphones gewährt.
Kritiker wenden zudem ein, dass nicht rechtlich geregelt ist, wer als potenzieller Virenträger eingestuft werden kann. Immerhin müssen die überwachten Personen informiert und die gesammelten Daten nach Abschluss der Überwachung gelöscht werden.
Doch letztlich gibt es nur sehr leise Kritik am schwachen Schutz der Privatsphäre. Dabei hat die Bevölkerung nach Jahrzehnten diktatorischer Herrschaft erst in den 1990er Jahren ihre Demokratie erkämpft. Der Grund ist nicht etwa vermeintlich konfuzianische Obrigkeitshörigkeit. Im Gegenteil, Südkorea hat eine Rege Protestkultur.
Stattdessen gleicht die Krisenpolitik einem rationalen Pakt mündiger Bürger im Angesicht einer beispiellosen Krise: Tausche gezielte Eingriffe in die Privatsphäre einiger Menschen gegen das Versprechen der Regierung, Menschenleben zu retten, behutsam mit der neugewonnenen Macht umzugehen und sie danach wieder aufzugeben. Dass in Südkorea progressive Kräfte regieren, stiftet zusätzlich Vertrauen.
Und darin liegt der Unterschied zu autoritären Ländern wie China. Dort nutzt der Staat die Krise, um die Kontrolle auszubauen. Aber in Demokratien können die Gesellschaften die Gesetze und Technik so gestalten, dass mögliche Eingriffe zeitlich und rechtlich auf ein Mindestmaß begrenzt werden.
Für die erste Phase der Epidemie in Deutschland kommen die Lehren aus Koreas Krisenstrategie zu spät. Aber für die zweite Phase, die Vermeidung einer zweiten Welle, ist Europa gut beraten, Korea zu kopieren. Man kann nur hoffen, dass die europäische Idee einer freiwilligen Teilnahme an dem Handytracking funktioniert.





