Kommentar: Trotz des Siegs ist das Ergebnis der kanadischen Parlamentswahl eine Ohrfeige für Trudeau

Die Partei des Ministerpräsidenten hat erneut die absolute Mehrheit verfehlt.
Justin Trudeau hat hoch gepokert: Er rief die vorgezogene Parlamentswahl aus, weil er sich aufgrund der Umfragewerte im Frühsommer gute Chancen ausgerechnet hatte, mit seiner Liberalen Partei die absolute Mehrheit der Sitze im Parlament in Ottawa zu gewinnen.
Er zwang den Kanadierinnen und Kanadiern damit eine unnötige Wahl auf. Denn es war sein Wunsch, wieder die absolute Mehrheit im Parlament zu haben, wie er sie 2015 bei seinem kometenhaften Aufstieg errungen, bereits 2019 aber verloren hatte.
Aber Trudeau, der einstige Sunnyboy der kanadischen Politik, hat sich verschätzt: Er hat die Wahl zwar gewonnen, seine Partei blieb aber deutlich hinter dem Ziel einer absoluten Mehrheit zurück. Die Liberalen sind nach dem Stimmenanteil nur die zweitstärkste Partei, auch wenn sie die meisten Sitze haben. Gemessen an den hohen Ansprüchen, mit denen Trudeau in den Wahlkampf gegangen war, ist dieser Sieg eher eine Ohrfeige.
Die Bevölkerung hatte es ihm nicht abgenommen, dass die Wahl ausgerufen werden musste, um den Wählerinnen und Wählern ein Mitspracherecht im Kampf gegen Corona zu geben. Denn Trudeaus Pandemie-Politik kam generell gut an. Die Impfkampagne verlief erfolgreich, der Staat verschuldete sich mit vielen Milliarden Dollar, um Familien und Unternehmen zu helfen. Kanada hatte einen Bundeshaushalt, die Regierung konnte an dem Weg aus der Krise arbeiten. Eine Neuwahl war dafür nicht notwendig.
Der Wahlkampf stärkte in breiten Bevölkerungsschichten deshalb den Unmut darüber, dass in Zeiten der vierten Covid-Welle Trudeau wahlwerbend durch das Land zog, anstatt in Ottawa zu arbeiten. Es festigte sich der Eindruck, dass es dem Premierminister vor allem darum ging, seine Machtbasis im Parlament zu vergrößern und uneingeschränkt regieren zu können.
Trudeau ist nicht mehr das Zugpferd seiner Partei
Dass Trudeau und seine Partei noch im Frühjahr versprochen hatten, in Pandemie-Zeiten nicht wählen zu lassen, diese Zusage dann aber brachen, verstärkte die Verärgerung über die Liberalen. Jetzt können Trudeau und seine Partei froh sein, dass sie – wie bisher – zumindest mit einer Minderheitsregierung weitermachen können.
Trudeau ist mittlerweile nicht mehr das Zugpferd seiner Partei. Nicht einmal ein Drittel der Bevölkerung nannte ihn in Umfragen als „bevorzugten Premierminister“.


Noch wird in der liberalen Partei Trudeaus Führungsrolle nicht offen infrage gestellt. Diskussionen über eine Nach-Trudeau-Ära in der Partei sind aber denkbar. Der Regierungschef muss sich darauf einstellen, dass in den ersten Fraktionssitzungen in den kommenden Wochen kritische Fragen gestellt werden, warum er die Lage so falsch eingeschätzt hat und der Partei und dem Land diesen Wahlkampf zugemutet hat.





