Kommentar: Warum das Scheitern des Westens seine Werte nicht entwertet

Wenn es so etwas wie ein Jahr der Zeitenwende gibt, dann kann, ja muss man mit Fug und Recht sagen, dass 2025 ein ebensolches war.
Es war das erste Amtsjahr des 47. Präsidenten der Vereinigten Staaten, der sich ebenso furios wie wirkmächtig daranmachte, das Ende des Westens einzuläuten.
Es war das Jahr, in dem nicht nur Moskau, sondern auch Peking, Pjöngjang und Teheran das Momentum der Geschichte auf ihrer Seite wähnen durften und ihr Glück kaum fassen konnten, weil die Führungsmacht der freien Welt die Seiten gewechselt hatte.
Und es war deswegen das Jahr, in dem Europa seine ganze Ohnmacht zu spüren bekam.
Es ging und geht nicht nur um die großen Fragen von Krieg und Frieden. Nicht nur darum, dass wir derzeit erleben, was vor wenigen Jahren noch als überwunden galt. Nämlich dass Großmachtpolitik mit archaischen Mitteln, jenseits allen Rechts und aller Regeln, in Form des größten Landkriegs seit dem Zweiten Weltkrieg wieder möglich sein würde.
Es geht am Ende vor allem auch um Werte. Um Freiheit, Gerechtigkeit, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte, ja um die Demokratie als Ganzes. Werte, die einmal jenes Konstrukt, das sich Westen nannte, definierten.
Aus, vorbei. Und dennoch ist es ein Irrtum zu glauben, dass die Faktizität diese Werte negieren könnte. Oder dass diese Werte allein dadurch obsolet sind, weil der Westen selbst sich oft genug an ihnen versündigte. Auch wenn die Tatsache, dass Amerika selbst diese Werte inzwischen unterläuft, sie gar im eigenen Land bekämpft, eine völlig neue Qualität der Bedrohung offenbart – und diese in ihrer Tragweite bei Weitem noch nicht erfasst ist.
Ukraine ist nur Symptom einer geopolitischen Wende
Denn diese Entwicklung stärkt gleichermaßen die Autokraten weltweit, wie sie die Demokraten schwächt. Die Jahrzehnte der Pax Americana sind unwiderruflich vorbei, vor allem aus europäischer Perspektive. Mehr noch: Amerika ist die Quelle einer Unsicherheit, wie es sie seit Jahrzehnten nicht gegeben hat.
Unmissverständlich dokumentiert ist dieser Wandel in der neuen Nationalen Sicherheitsstrategie, die sich streckenweise wie ein Abschiedsbrief aus der Neuen an die Alte Welt liest. Erstere gründet neuerdings auf Herkunft, Religion und Nation, letztere auf Völkerrecht, Menschenrecht und Demokratie.
Nirgendwo wird dieser Kontrast deutlicher als in dem völlig unterschiedlichen Blick auf den Ukrainekrieg. Für die Trumpisten ist Frieden nichts weiter als ein Business-Case. Für die Alte Welt dagegen stellt ein gerechter Frieden, der eben nicht auf eine Kapitulation des Kriegsopfers hinausläuft, einen sicherheitspolitischen, völkerrechtlichen und moralischen Imperativ dar.
Ja, Trump brüstet sich immer noch, größter Unterstützer Kiews zu sein, lässt sich aber die Waffenlieferungen längst von den Europäern bezahlen und geht eine Komplizenschaft mit Moskau ein, die weit über das Maß des Erträglichen hinausreicht. Der einzige erfolgversprechende Weg zum Frieden aber ist ein Zusammenspiel von Diplomatie und militärischer Abschreckung gegenüber einem geschichtsrevisionistischen Aggressor.
Europa – militärisch impotent, geopolitisch unreif
Europa allein verfügt nicht über die Kraft, dieses Zusammenspiel zu kalibrieren, weil es an militärischen Kapazitäten und geopolitischer Reife mangelt. Es kann allenfalls die Rolle eines leicht zu überhörenden Korrektivs gegenüber geschichtsvergessener amerikanischer Hybris spielen. In martialischen Worten hat die Lage Europas neulich der polnische Premier Donald Tusk auf den Punkt gebracht. Europa werde auf jeden Fall einen großen Preis bezahlen müssen, um seine Freiheit gegen Russland zu verteidigen, „entweder heute mit Geld oder morgen mit Blut“.
Die Bedrohung, die von Moskau ausgeht, ist real. Akut existenzbedrohend wird sie durch die Tatsache, dass der einstige Wertepartner jenseits des Atlantiks das Regime in Moskau nicht als Systemrivalen betrachtet, sondern am liebsten als Geschäftspartner. Das Gleiche gilt für den Umgang mit Peking, wenn langfristig in einer weitaus größeren Dimension.
Tatsächlich muss sich der Krieg in der Ukraine und die damit einhergehende für alle erkennbare Spaltung der westlichen Wertewelt auch aus chinesischer Perspektive wie eine Zeitenwende anfühlen. Erstens, weil diese Spaltung das Ende der westlich dominierten Weltordnung einläuten könnte. Zweitens, weil auch viele andere aufstrebende Länder diese Entwicklung mit Genugtuung betrachten als Emanzipationsprojekt gegen westliches Dominanzverhalten vergangener Jahrzehnte und Jahrhunderte.
Selbst im Inneren der europäischen Demokratien verklären die radikale Linke wie Rechte antiwestliche Ressentiments zu einem postkolonialistischen Freiheitskampf, etwa, indem sie sich mit islamistischen Terrorgruppen wie der Hamas gemeinmachen oder indem sie die Bedrohung durch Russland zu einer Bedrohung Russlands durch das westliche Verteidigungsbündnis umdeuten.
Und dennoch: Wie hältst du es mit der Demokratie? Das ist und bleibt die entscheidende Frage. Menschenrechte, Völkerrecht, Rechtsstaatlichkeit – das sind die Werte, die weltweit immer noch die Sehnsucht jener Menschen wecken, denen ein Leben in Würde und Freiheit verwehrt bleibt. Es sind genau die Werte, die auch bei der Überwindung der größten geopolitischen Krise seit dem Zweiten Weltkrieg helfen.
Wenn die autokratischen Modelle in Peking, Moskau, Teheran oder Pjöngjang eines nicht liefern, dann ist es die Verheißung einer gerechteren Gesellschaft oder einer Weltordnung, die dauerhaften Frieden sichert.
Menschenrechte, das Völkerrecht und überhaupt demokratische Werte delegitimieren sich nicht dadurch, dass Europäer mit erhobenem Zeigefinger über den Globus laufen. Westlichen Werten am besten gedient ist, wenn sich ihre Verfechter ihrer kolonialen Schuld bewusst werden und das freiheitliche System als ein Angebot und nicht als eine Mission begreifen.