Kommentar: Warum Extremisten in Großbritannien derzeit keine Chance haben


In Großbritannien stehen die Zeichen auf Wechsel. Vor Kurzem sagte das Meinungsforschungsinstitut Yougov eine Erdrutschniederlage für die im Königreich seit 13 Jahren regierenden Konservativen voraus, die nur mit der Blair-Revolution gegen die Tories 1997 vergleichbar sei. 120 Sitze würde demnach die Mehrheit von Labour im Unterhaus nach der voraussichtlich im November stattfindenden Parlamentswahl betragen.
Das Besondere daran ist jedoch nicht, dass es wohl im Herbst mit großer Wahrscheinlichkeit zu einem Regierungswechsel in London kommen wird. Nein, das Bemerkenswerte ist, wie friedlich und unaufgeregt der Schwenk von Mitte-rechts nach Mitte-links abläuft. Das Problem der beiden großen Parteien in Großbritannien ist nicht, dass sie zu stark polarisieren, sondern dass sie sich zu ähnlich sind.
Großbritannien dürfte damit im Superwahljahr 2024 eine rühmliche Ausnahme sein. Wer sich die politische Weltkarte anschaut, sieht zu Beginn des Jahres, in dem die Hälfte der Weltbevölkerung zu den Wahlurnen gerufen wird, wie Nationalisten, Autokraten und Populisten von Indien über Russland bis nach Amerika ihre Länder polarisieren und – soweit vorhanden – die Demokratie in eine Zerreißprobe zwingen.
Die EU ist vor dieser Gefahr nicht gefeit, im Gegenteil: Von Italien und Frankreich im Süden über Ungarn im Osten und den Niederlanden im Zentrum bis hinauf nach Schweden und Finnland im Norden – entweder sind Rechtspopulisten bereits an der Macht oder gewinnen immer mehr Einfluss. Deutschland ist dabei keine Ausnahme, wie der Vormarsch der AfD bei den hiesigen Kommunal- und Landtagswahlen zeigt.
Dass in diesen unruhigen Zeiten ausgerechnet das vom Brexit zerrissene und durch zahlreiche Regierungskrisen verunsicherte Großbritannien sich als Insel demokratischer Stabilität erweist, mag vor allem jene Kontinentaleuropäer überraschen, die nach dem EU-Austritt der Briten immer noch mit einer Mischung aus Mitleid und Schadenfreude auf Großbritannien schauen.
Tolerante britische Gesellschaft verhindert extremistische Politik
Zwar haben auch die Briten mit dem Ex-Premier Boris Johnson ihre leidvollen Erfahrungen mit einem Populisten gemacht. Die größte Gefahr, die von Johnson ausging, war jedoch seine Inkompetenz und nicht ein antidemokratischer Machthunger.
Dass es seinem Nach-Nachfolger Rishi Sunak gelungen ist, das Inselreich nach den wirren Johnson-Jahren und den Chaostagen seiner Nachfolgerin Liz Truss wieder zu beruhigen, zeigt eine Stärke der britischen Demokratie, die man anderswo vergeblich sucht.
Kritiker werden sagen, das sei vor allem zwei Besonderheiten zu verdanken: dem Mehrheitswahlrecht, das zum Beispiel die nationalistische „Reform UK“-Partei trotz etwa zehn Prozent Zustimmung in der Bevölkerung zur Bedeutungslosigkeit verdammt. Und der Tatsache, dass es den Tories bislang anders als der CDU in Deutschland gelingt, das rechte Themenspektrum von der Flüchtlingspolitik bis zum Kulturkampf so weit abzudecken, dass daneben kaum noch Platz ist.
Hinzu kommt, dass der Brexit für die britischen Nationalisten ein Sieg war, von dem sie sich bis heute nicht erholt haben. Zu groß ist die Erschöpfung, als dass die Briten sich erneut auf eine nationale Zerreißprobe einlassen würden.






Was können besorgte und bedrängte Demokraten in anderen Ländern von dem britischen Beispiel lernen? Bei allen Unterschieden ist es vor allem die liberale Toleranz gegenüber dem Anderssein und Andersdenken, die verhindert, dass Extremisten in Großbritannien politische Bedeutung gewinnen. Ein Premier mit indischen Wurzeln, eine Wirtschaftsministerin, die in Nigeria aufgewachsen ist, und ein Jude als Verteidigungsminister. Das ist auf der Insel so normal, dass es nicht der Rede wert ist.
Gut möglich also, dass am Ende des Superwahljahrs 2024 die britische Demokratie als Gewinnerin dasteht.






