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Mehmet Simsek

Zeigt sich optimistisch, dass die Schwäche der Lira schon bald Geschichte sein wird.

(Foto: Bloomberg)

Mehmet Simsek im Interview Türkischer Vizepremier bremst Erdogan – „Die Zentralbank bleibt unabhängig – Punkt“

Der türkische Vizepremier Mehmet Simsek erteilt Erdogans Wunsch nach einer stärkeren Kontrolle der Notenbank eine Absage. Im Interview spricht er über den Verfall der Lira, die anstehenden Wahlen – und seine Wahrnehmung als Kurde in der Türkei.
06.06.2018 - 18:00 Uhr Kommentieren

Ankara Mehmet Simsek muss in diesen Tagen flexibel sein – ansonsten müsste er sich teilen. Am 24. Juni werden in der Türkei der Präsident und das Parlament gewählt, der Wahlkampf ist in seiner Hochphase. Doch als Superminister für die wirtschaftliche Entwicklung treibt Simsek der Verfall der Lira um. Statt in seinen Wahlkreis Gaziantep im kurdisch-geprägten Südosten reiste Simsek daher kürzlich nach London, um aufgeregte Anleger zu beruhigen. Das Handelsblatt trifft den 51-Jährigen am Dienstagabend in seinem Büro im Schatzamt in Ankara, kurz nachdem er sich mit dem Parlamentspräsidenten getroffen hatte. Nach einer Stunde gesellt sich seine Frau dazu, um Simsek anschließend zum nächsten Termin zu begleiten.

Herr Simsek, führende Mitglieder Ihrer Regierung machen fremde Mächte für den jüngsten Verfall der türkischen Lira verantwortlich. Unterstützen Sie diese Theorie?
Die Schwäche unserer Währung hat zu tun mit externen und spezifisch türkischen Faktoren. Die steigenden Leitzinsen in den USA und der starke US-Dollar führten zu einer Schwäche vieler Währungen weltweit. Hinzu kommen hohe Ölpreise. Die türkische Lira hat sich leider noch einmal negativ davon entkoppelt.

Warum?
Beobachter haben die Geldpolitik des Landes infrage gestellt, insbesondere nachdem die Inflation zugenommen hat und die Rhetorik aus dem Ruder gelaufen ist. Die Zentralbank ist das Problem angegangen, wir sehen es als unter Kontrolle.

Gehören nicht auch die Milliardenprogramme der Regierung, mit denen die Bevölkerung bei Laune gehalten werden soll, zu den Fehlern?
Beobachter haben unsere ansonsten strenge Haushaltspolitik infrage gestellt. Wir werden dieses Thema nach der Wahl behandeln. Aber eines möchte ich klarstellen: AKP-Regierungen waren fiskalisch immer sehr streng! Auch wenn es nun Bedenken gibt, halte ich diese für übertrieben.

Welche Schritte planen Sie?
Wir haben schon einiges unternommen. Deshalb bin ich optimistisch, dass die Schwäche der Lira schon bald Geschichte sein wird. Mit einem frischen Fünf-Jahres-Mandat nach den Wahlen wird die Regierung alle Probleme angehen. Wenn wir jetzt die Staatsausgaben wieder straffen, wird die inländische Nachfrage einen Dämpfer bekommen. Doch unsere Exporte laufen gut, der Tourismus bringt Devisen.

Jetzt, kurz vor einer wichtigen Wahl, möchten Sie einen wirtschaftlichen Dämpfer als Erfolg verkaufen?
Im ersten Quartal in diesem Jahr ist die Türkei immer noch mehr als dreimal so stark gewachsen wie die Länder der Euro-Zone. Wäre die Wirtschaft seit der Republikgründung so stark gewachsen wie mit der AKP seit 15 Jahren, wäre die Türkei wirtschaftlich gesehen weltweit auf Platz 7 und nicht nur auf Platz 13. Dieser Erfolg kann doch nicht durch ein paar Wochen mit Währungsschwankungen zunichtegemacht werden!

Sie versuchen, ein wichtiges Thema kurz vor einer äußerst wichtigen Wahl kleinzureden.
Ich verstehe Ihre Kritik, und ich verstehe auch, dass die Opposition aus dieser kurzfristigen Lage Kapital schlagen will. Aber die Opposition hat kein glaubwürdiges Programm.

Sie offenbar auch nicht.
Das stimmt nicht. Noch ein Beispiel: Die Oppositionspartei CHP hat Wahlversprechen in Höhe von 324 Milliarden Lira ausgesprochen. Unsere kosten gerade einmal ein Zehntel.

Und trotzdem hat die Inflation im Mai wieder einen Rekordstand erreicht. Sollte die Zentralbank die Zinsen weiter erhöhen?
Ich lege großen Wert auf die Glaubwürdigkeit und die Unabhängigkeit der Türkischen Zentralbank.

Präsident Erdogan möchte die Geldpolitik stärker kontrollieren. Man bekam den Eindruck, dass es in der türkischen Führung darüber einen Dissens gibt. Stimmt das?
Die Zentralbank wird unabhängig bleiben – Punkt.

Die Geldpolitik ist nicht das einzige Problem. Große Firmen können milliardenhohe Schulden nicht bedienen. Die Börse hat in dieser Woche einen Jahrestiefstand erreicht. Droht eine Implosion?
Die Schuldenquote der Unternehmen liegt bei 68 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, etwa die Hälfte stammt aus Fremdwährungskrediten. Kurzfristig jedoch sind die Fremdwährungsvermögen größer als die Verbindlichkeiten in Fremdwährung. Ich mache mir deshalb keine Sorgen, sofern sich die Stimmung nach der Wahl wie erwartet beruhigt.

Da klingt viel Hoffnung durch.
Das ist kein Wunschdenken, wir haben das alles durchgerechnet! Im März haben wir außerdem Investments in viele Sektoren vereinfacht. Ich verspreche Ihnen: Wenn wir uns in ein paar Jahren wieder sprechen, werden wir auf dem Weltbank-Index für „einfaches Wirtschaften“ deutlich nach oben geklettert sein.

Sie haben die vorgezogene Präsidentschafts- und Parlamentswahl am 24. Juni bereits erwähnt. Umfragen zufolge könnte Amtsinhaber Erdogan die absolute Mehrheit verfehlen. Er müsste in eine Stichwahl.
Nicht, wenn Sie bisher unentschiedene Wähler proportional aufteilen.

Das ist eine reine Hochrechnung.
Wir rechnen damit, dass Präsident Erdogan im ersten Wahlgang gewinnt und auch die AKP im Parlament die absolute Mehrheit erreichen wird.

Dem neuen Gesetz zufolge dürfen Abgeordnete nicht mehr gleichzeitig ein Ministeramt bekleiden. Sie sind von Ihrer Parteiführung nicht mehr für ein Abgeordnetenmandat vorgeschlagen worden. Verlassen Sie auch die Regierung?

Das sind Spekulationen. Die Wahrheit ist: Ich habe freiwillig auf ein Abgeordnetenmandat verzichtet.

Rechnen Sie also mit einem Posten?
Das entscheidet der Präsident. Unabhängig von Personen glaube ich: Die Türkei hat keine andere Chance, als zu reformieren, den Rechtsstaat zu stärken und ökonomische Missstände auszubalancieren. Die AKP hat dabei in der Vergangenheit einen großartigen Job erledigt.

… aber?
Kein Aber. Die letzten Jahre waren schwierig, aus sehr bekannten Gründen: geopolitisches Chaos in unserer Nachbarschaft, eine Vielzahl von Terrorattacken und ein blutiger Putschversuch. Unsere Reaktion darauf hat zu teilweise extremen Spannungen mit unseren alten Freunden geführt. Wenn sich alles bald wieder normalisiert, wird die Türkei unter der AKP wieder dahin zurückkehren, wo sie vor einigen Jahren einen Zwischenstopp einlegen musste.

„Demokratien geraten unter Druck.“(Foto: Fatih Kurt)
Mehmet Simsek (li.) und Handelsblatt-Korrespondent Ozan Demircan

„Demokratien geraten unter Druck.“

(Foto: Fatih Kurt)

Ist es aus Ihrer Sicht ein Erfolg, dass sich die USA und die PKK aus der syrischen Stadt Manbidsch zurückziehen?
Auf jeden Fall. Wir können dadurch mit unserem Partner USA endlich wieder über andere Themen sprechen. Im Übrigen sind seit dem Gipfel der Flüchtlingskrise über 200.000 Syrerinnen und Syrer aus der Türkei in ihre Heimat zurückgekehrt; vor allem in Gebiete, in denen vorher das türkische Militär eingesetzt war.

Sie selbst haben kurdische Wurzeln. Gleichzeitig geht die Regierung gegen die prokurdische Partei HDP vor und kämpft gegen Rebellen der kurdischen Terrorgruppe PKK.
Es ist ein großer Fehler, die relativ kleine PKK als Repräsentant für 40 Millionen Kurdinnen und Kurden in der Region zu sehen. Sie repräsentiert höchstens fünf Prozent der kurdischen Population. Die Art, wie der Westen die Kurdenthematik auffasst, ist fundamental falsch.

Fühlen Sie sich nicht benachteiligt?
Nein. Ich lebe in Ankara, als Kurde, meine Frau ist ethnische Türkin. Wir haben zwei Zwillingstöchter. Die PKK braucht keine Kurdenproblematik in meiner Familie zu lösen. Wir sind unzertrennlich. Es gibt Millionen Kurden und Türken wie uns!

Ist die Türkei, was die Kurdenpolitik angeht, liberaler geworden?
Ich komme aus sehr einfachen Verhältnissen und habe acht ältere Geschwister. Meine Eltern galten in der Türkei als Analphabeten, weil sie nur Kurdisch und kein Türkisch sprechen. Und als Kurde, der aus sehr einfachen Verhältnissen kommt und es auf die Position des Vizeministerpräsidenten geschafft hat, sehe ich darin den besten Beweis.

Wie sieht Ihrer Meinung nach eine endgültige Lösung aus?
Wenn die PKK wirklich daran interessiert wäre, fundamentale Freiheiten sowie Gerechtigkeit für Kurden zu erarbeiten, hätten sie ihre Waffen längst vergraben und ihre Gewalt beendet. Es war unsere Regierung, die ihnen vor mehreren Jahren die Chance dazu gegeben hat. Sie haben diese Chance am Ende nicht genutzt.

Nun sitzt der Chef der prokurdischen HDP im Gefängnis. Hat die Annäherung einen Dämpfer erlitten?
Keine Demokratie in der Welt kann eine politische Partei akzeptieren, die von einer Terrorgruppe wie der PKK beherrscht wird. Das ist bei der HDP der Fall. Man kann die Kurdenthematik nicht ohne die PKK und ihre Strategie des Terrors begreifen. Das ist der Punkt, bei dem die Wahrnehmung des Westens fundamental danebenliegt. Wir brauchen mehr Gleichberechtigung, mehr Toleranz und mehr Demokratie und Rechtsstaat. Was wir nicht brauchen, ist eine Gruppe, die mit Anschlägen Hunderte Menschen tötet und daraus Kapital schlagen will.

Mehr Demokratie und Rechtsstaat wünscht sich die Opposition in der Türkei auch.
Ich möchte eines klarstellen: Die Türkei hat kein Problem mit Kurden. Aber die Türkei hat ein legitimes Interesse, eine brutale Terrorgruppe zu bekämpfen.

Glauben Sie, im Nahen Osten kann wieder so etwas wie eine Kultur der Toleranz entstehen?
Ich glaube, dass weltweit liberale Demokratien unter Druck geraten.

So wie in der Türkei?
Das mag sein. Aber wenn Sie die schlimmen Ereignisse der vergangenen Jahre berücksichtigen, den Terror im Land und in der Region sowie den Putschversuch, dann braucht es bloß etwas Empathie, um unsere Reaktion zu verstehen.

Bei allem Respekt: Das kann natürlich jede Regierung behaupten.
Ich muss doch sehr bitten. Wie würde Deutschland reagieren, wenn aus einem direkten Nachbarland eine Terrorgefahr wie die PKK oder der Islamische Staat entsteht – eine Gruppe, die das theoretische Potenzial hätte, ein Stück deutsches Staatsgebiet an sich zu reißen?

Es ist zu hoffen, dass es nie dazu kommen wird.
Aber es ist wichtig, sich das vorzustellen. Wir brauchen mehr Empathie in der Welt, Kommunikation und gegenseitiges Verständnis. Genau diese Tugenden gehen gerade unter. Das konnte man auch im bilateralen Verhältnis zwischen Deutschland und der Türkei sehen. Wir hoffen nun, dass wir das Schlimmste hinter uns haben.

Sollte Erdogan gewinnen, wird er viel Macht auf sich vereinen. Halten Sie das für sinnvoll?
Leider haben viele im Westen nicht verstanden, worum es im neuen System geht. Viele sind einzig davon überzeugt, dass Präsident Erdogan die Macht an sich reißen will.

Wie lautet Ihr Verständnis?
Diese Verfassungsänderung wird Stabilität in die Administration bringen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Die türkische Republik existiert seit 1923. In den 95 Jahren seit der Staatsgründung hat es 65 Regierungen gegeben, obwohl eigentlich nur alle fünf Jahre gewählt werden soll. Das Parlamentssystem hat keine Stabilität geschaffen. Wie in Italien leiden wir unter schwachen, kurzfristigen Koalitions‧regierungen. Das Präsidialsystem soll diesen Geburtsfehler beheben.

Glauben Sie, dass sich die Türkei vom Westen entfernen könnte?
Nein. Wir nähern uns einander an. Wir brauchen unsere Partner im Westen, und unsere Partner brauchen uns. Die Türkei will sich weiter an den Prinzipien Europas und eines EU-Beitritts orientieren, auch unabhängig von einem tatsächlichen EU-Beitritt. Wir wollen mit diesem Kontinent verankert bleiben.

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