7,4 Prozent Wachstum Operation gelungen, Zustand kritisch – die türkische Wirtschaft im Schnellcheck

Am 24. Juni stehen in der Türkei die neuen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen an.
Istanbul Die Türkei gehört beim Wirtschaftswachstum erneut zu den globalen Spitzenreitern. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) des Landes wuchs im ersten Quartal 2018 um 7,4 Prozent, wie das nationale Statistikinstitut am Montag bekanntgab.
Ein Abschwung der seitdem stark aufgeheizten Konjunktur in dem Land hat damit offenbar noch nicht begonnen. Doch beim genauen Blick auf die Details sind einige Risiken zu erkennen.
Die Zahlen zum BIP-Wachstum geben die Produktionskraft einer Volkswirtschaft wieder und sind dadurch ein wichtiger Gradmesser für dessen wirtschaftliche Entwicklung. Den Zahlen des Türkischen Statistikinstituts zufolge stieg das BIP im Bereich Industrie um 8,8 Prozent, im Bausektor um 6,9 Prozent und in der Landwirtschaft um 4,6 Prozent.
Der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan kommentierte die Wachstumszahlen am Montag auf Twitter. Das Land wachse unter den OECD-Staaten am stärksten und sei in der G20-Gruppe, in der die Türkei Mitglied ist, auf Platz zwei. „Trotz all der ökonomischen Attacken und der Spiele, die gespielt werden, stehen wir auf einem soliden makroökonomischen Fundament und führen das starke Wachstum weiter“, behauptete Erdogan.
Doch das Wachstum kommt vor allem aus einer Ecke: von der massiven Kauflaune der Türkinnen und Türken. Von 7,4 Prozent Wachstum stammen 6,7 Prozentpunkte, also nahezu der gesamte Zuwachs, aus dem privaten Konsum. Damit sind die Ausgaben normaler Privatpersonen gemeint, die etwa neue Kühlschränke, Autos oder teurere Lebensmittel einkaufen. Dieser zusammengefasste Wert kletterte in den ersten drei Monaten des Jahres um elf Prozent nach oben, während die Staatsausgaben um 3,4 Prozent anstiegen.
Die Exportkraft des Landes hat den Zahlen zufolge hingegen nachgelassen: Die Ausfuhren aus der Türkei rissen das Wachstum um 3,6 Prozentpunkte nach unten. Anders ausgedrückt: Nur durch den starken Privatkonsum konnte überhaupt ein Wirtschaftswachstum erreicht werden.
Das ist per se nicht schlimm – aber riskant. Wenn das Wachstum einer Volkswirtschaft nicht gleichmäßig auf viele Standbeine verteilt ist, wird sie anfällig. Die Gefahr einer harten Landung der Wirtschaft steigt an. Das sehen auch Ökonomen so.
Exzessive Abhängigkeit nach privater Nachfrage
So merkte die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) bereits im März an, dass das starke Wachstum in der Türkei anderswo „Missstände verstärkt“ habe und sprach von einer „exzessiven Abhängigkeit nach privater Nachfrage“. Türkinnen und Türken kaufen also extrem viel ein – und offenbar mehr, als sie selbst produzieren.
Das zeigt sich bei den Zahlen zu Importen und Exporten. Die Ausfuhren (Exporte) stiegen im ersten Quartal um gerade einmal 0,5 Prozent, während die Einfuhren (Importe) um 15,6 Prozent zulegten. Der türkische Vize-Ministerpräsident Mehmet Simsek kündigte im Interview mit dem Handelsblatt vergangene Woche an, den privaten Konsum langfristig drosseln zu wollen. „Wenn wir jetzt die Staatsausgaben wieder straffen, wird die inländische Nachfrage einen Dämpfer bekommen“, erklärte Simsek, „doch unsere Exporte laufen gut, der Tourismus bringt Devisen“, fasste er zusammen.
Die nun veröffentlichten Zahlen zu den schwach gestiegenen Exporten sprechen jedoch eine andere Sprache. Und wenn der Wert der Einfuhren größer ist als der Wert der Ausfuhren, muss auch mehr Geld bezahlt werden, als eingenommen wird. Ergo: Die Schuldenlast steigt.
Das zeigt sich in den Statistiken: Türkische Haushalte und Unternehmen sitzen auf einem milliardengroßen Schuldenberg, etwa die Hälfte davon in Fremdwährung. Dieser Wert macht laut OECD ein Viertel des BIP aus.
Die Gründe für die Kauf- und Schuldenlaune bei den Türken liegen in Ankara. Die Führung des Landes startete nach einer Terrorserie und einem Putschversuch in den Jahren 2015 und 2016 große – und teure – Konjunkturprogramme, um die Wirtschaftskraft künstlich zu beatmen. So kommen Unternehmen seitdem günstig an Kredite, auch Hausbauer profitieren von niedrigen Zinsen der staatlichen Banken.
Die Spritze wirkte, blieb aber nicht ohne Nebenwirkungen. Die Schulden stiegen stark an, die Inflation erreichte mit 12 Prozent einen Rekordwert. Und das viele billige Geld aus Ankara sorgte für einen Verfall der türkischen Lira. Seit Jahresbeginn verlor die Währung gegenüber dem US-Dollar mehr als 20 Prozent an Wert.
Staatschef Erdogan will allerdings nicht gegensteuern. Eine Erhöhung der Leitzinsen lehnt er ab, weil dies die Investitionsfreude der Türken einfrieren könnte. Auch das trug zum Währungsverfall bei, der Importe teurer macht und die Inflation zuletzt anheizte.
Am 24. Juni finden in der Türkei wegweisende Wahlen statt. Gewinnen Erdogan und seine Partei AKP, wird eine Verfassungsreform aktiviert, die dem Staatsoberhaupt die Regierungsgeschäfte überträgt. Erdogan konzentriert dann deutlich mehr Macht auf sein Amt. In Umfragen liegt Erdogan vorne, jedoch könnte sein Herausforderer Muharrem Ince von der säkularen CHP den Amtsinhaber in eine Stichwahl zwingen.
Erdogan kann nun argumentieren, dass seine Wirtschaftspolitik die Richtige ist. Doch führende Ökonomen des Landes sehen weiter eine Schieflage. Dazu gehört Gündüz Findikcioglu. Der ehemalige Investmentbanker meint, dass die Führung in Ankara über ein groß angelegtes Strukturprogramm nachdenken sollte.
„Ein solches Programm könnte entweder vom Internationalen Währungsfonds (IWF) auferlegt werden, oder die Führung in Ankara könnte es so gestalten, als käme es vom IWF“, ist Findikcioglu überzeugt. Die türkische Wirtschaft sei „in den letzten 10 Jahren ankerlos unterwegs“ gewesen, sprich: Wachstum um jeden Preis. Doch diese Phase sei nun vorbei, wie die Zahlen zeigten. Nun brauche es ein Stabilitätsprogramm. „Das, und nur das, kann die aufkommenden Probleme lösen.“
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Sehr geehrte Redaktion,
in den EU-Konvergenzkriterien des Maastricht-Vertrags von 1992 wurde für Mitgliedsstaaten der Europäischen Union eine zulässige Schuldenobergrenze von 60% des BIP festgesetzt, die allerdings von nahezu allen Ländern früher oder später überschritten wurde. Die Staatsverschuldung in Deutschland, einem der wirtschaftlich stabilsten Staaten Europas, lag beispielsweise bereits 2002 bei ca. 60% des BIP.
Daher ist die Formulierung im Artikel, Zitat: " Türkische Haushalte und Unternehmen sitzen auf einem milliardengroßen Schuldenberg........ Dieser Wert macht laut OECD ein Viertel des BIP aus."; sehr verwirrend und sollte meines Erachtens relativiert werden, zumal der Laie, der sich mit wirtschaftlichen Fachbegriffen nicht auskennt, hierdurch sehr leicht manipuliert werden kann.
Dr. M. Arkac