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AusstellungenEin Macher mit Sendungsbewusstsein

Zwei Ausstellungen in Bern lenken den Blick auf die Wandlungsfähigkeit im Werk von Ernst Ludwig Kirchner. Es geht um eine Neubewertung in einem volatilen Markt.Susanne Schreiber 18.12.2025 - 10:55 Uhr Artikel anhören
Ernst Ludwig Kirchners „Schlittschuhläufer“ von 1924/25 sind eine Leihgabe aus dem Hessischen Landesmuseum Darmstadt. Bis zum 11. Januar 2026 sind sie in der Ausstellung „Kirchner x Kirchner“ im Kunstmuseum Bern zu sehen. Foto: Hessisches Landesmuseum Darmstadt, Foto: Wolfgang Fuhrmannek

Bern, München. Dem einstigen Kanzler Helmut Schmidt verdanken die Deutschen ein riesiges Bild von Ernst Ludwig Kirchner (1880–1938), das die meisten aus den Fernsehnachrichten kennen. Zumindest in Ausschnitten, denn das in Grün und Blau gehaltene Großformat „Sonntag der Bergbauern“ bebilderte viele TV-Berichte aus dem Kabinettsaal des Bundeskanzleramts. Schmidt hatte es sich einst von Roman Norbert Ketterer, dem ersten Nachlassverwalter von Kirchner, zunächst ausgeliehen, dann angekauft. Der kunstsinnige Sozialdemokrat wollte den von den Nazis verfemten Expressionisten Wiedergutmachung und Anerkennung zukommen lassen. Seit 1985 gehört das expressionistische Großformat der Bundesrepublik Deutschland.

Der Fries aus blockhaften Figuren feiert das einfache Leben von drei Generationen in den Schweizer Bergen, wo Kirchner seit 1917 lebte. Seine Nachbarn von der Alp gehen ganz auf in der sie umgebenden Natur, nicht nur farblich. Ein Bild vom Glück, gemalt zwischen 1923 und 1926. Es steht in krassem Gegensatz zur Künstlerseele, die seit traumatischen Erfahrungen als Sanitäter im Ersten Weltkrieg schwer angeschlagen ist.

Ernst Ludwig Kirchners Gemälde „Sonntag der Bergbauern“ gehört seit 1985 der Bundesrepublik Deutschland. Das nun erstmals ausgeliehene Querformat aus dem Kanzleramt ist eines der Hauptwerke in der Ausstellung im Berner Kunstmuseum. Foto: © Bundesrepublik Deutschland

Das nun erstmals ausgeliehene Querformat aus dem Kanzleramt ist eines der Hauptwerke in der ambitionierten Ausstellung „Kirchner x Kirchner“ im Berner Kunstmuseum, die noch bis zum 11. Januar 2026 läuft. Gleich daneben hängt das Pendant „Alpsonntag. Szene am Brunnen“ aus Berner Sammlungsbestand. 1933 wurde es angekauft, als die Nazis Kirchners Werke in deutschen Museen bereits abhängten und sie verächtlich machten. Dem Künstler war die symbolische Anerkennung durch eine führende Schweizer Institution derart wichtig, dass er statt der ursprünglich veranschlagten 16.000 Schweizer Franken nur 4250 Franken verlangte. Das war exakt die Summe, die die Schweizer Mäzene aufbringen konnten.

Nebeneinander hingen die beiden großen Bergbilder schon einmal. 1933 hatte der Wahlschweizer Kirchner die Möglichkeit, in der Kunsthalle Bern eine Retrospektive seines Gesamtwerks selbst einzurichten. Die aktuelle Berner Schau im Kunstmuseum ist indes keine Rekonstruktion dieser historischen Ausstellung, denn es fehlen Kirchners Skulpturen sowie verschollene oder zerstörte Gemälde. Dennoch ist die von Nadine Franci kuratierte Annäherung an Kirchners Selbstdarstellung die Anreise wert.

Flächige Abstraktion

Zum einen rückte der Maler damals bewusst seinen „Neuen Stil“ in den Mittelpunkt. Der ist flächiger angelegt als in den Berliner Bildern der „Brücke“-Jahre. Er abstrahiert die Formen stark und belebt diese durch Liniengeflecht. Damit überschreitet Kirchner jene Malweise, mit der sein kometenhafter Ruhm begann: Die nervös flirrenden Berliner Straßenszenen mit Prostituierten, für deren museale Version Ronald Lauder 2006 umgerechnet 26,6 Millionen Euro netto zu zahlen bereit war. Das Motiv „Kokotte“ taucht zwar in der 1933er-Schau auf und auch jetzt in Bern. Aber in einer beruhigten, übermalten Version von 1924/25.

Zum anderen übernimmt der Künstler nahezu alle Aufgaben, die üblicherweise den Museumsangestellten obliegen. Kirchner ist ein Macher mit Sendungsbewusstsein, der damals auf eine Neubewertung seines Schweizer Schaffens zielt. Dafür entwirft er selbst einen Hängeplan mit ausgeklügelten Blickachsen, Farb- und Motivbeziehungen für 240 Arbeiten. Er kümmert sich um Stil und Inhalt von Katalog und Plakat. Er wählt sogar das Papier selbst aus. Nachweislich verfasst auch er 105 Kurzkommentare zu den Exponaten und nicht Kunsthallenleiter Max Huggler.

Neue Ästhetik

Ernst Ludwig Kirchner verlegt Entstehungsdaten vor und verfasst unter Pseudonym eine – natürlich – wohlmeinende Kritik über sein Werk. Das war schon bekannt. Doch so deutlich gesehen und durchlaufen hat man Kirchners von ihm selbst „Neuer Stil“ genannte Werkphase ab 1924 noch nicht. Hier wird erfahrbar, wie sein bildnerisches Denken zwischen Bergwelten und Großstadtvergnügen, Eislauf und Tanz oszilliert und ästhetisch zu neuen Lösungen drängt.

Kuratorin Franci vom Kunstmuseum Bern fand eine Reihe von attraktiven Leihgaben auch im Haus der Galerie Henze & Ketterer. Ingeborg Henze-Ketterer pflegt seit dem Tod ihres Vaters Roman Norbert Ketterer im Jahr 2002 gemeinsam mit ihrem Bruder Günther (1949–2024) den Nachlass. Auf Messen und am Stammsitz plädiert die Galerie nicht anders als Museen für eine Aufwertung der Werkphase ab 1924. Dafür stellen sie immer wieder Bezüge her zu der europäischen Künstlergruppe Abstraction-Création sowie zu den späteren Stilbewegungen Informel und Pop Art.

Für das faszinierende Gemälde „Spielende Badende“ von 1928 erwartet der Galerist und Kirchner-Kenner Wolfgang Henze 1,2 Millionen Schweizer Franken. Foto: Galerie Henze & Ketterer

In Wichtrach nahe Bern präsentiert die Galerie Henze & Ketterer Kirchners „Neuen Stil“ in einer eigenen Ausstellung facettenreich auf Papier und Leinwand (bis 15. Mai 2026). Charakteristisch sind die ins statische Medium Bild geholten ausdrucksstarken Bewegungen.

Im Gemälde „Spielende Badende“ von 1928 vermag die Betrachterin nicht zu entscheiden, ob sich ein weiblicher Akt aus der Hocke sukzessive in den Stand erhebt, oder ob drei Akte in drei Haltungen gemalt sind. Für das faszinierende Bild erwartet der Galerist und Kirchner-Kenner Wolfgang Henze 1,2 Millionen Schweizer Franken.

Im Gemälde „Kaffeehaus“ von 1927 löst Kirchner die Naturformen sehr weit auf. Dennoch vermittelt sich das Motiv des Kaffeehausbesuchs deutlich: das Sehen und Gesehen-Werden. Dafür werden 700.000 Franken veranschlagt. Papierarbeiten liegen zwischen 15.000 und 40.000 Franken. Die Familie Henze-Ketterer kuratiert nicht nur Verkaufsausstellungen, sie ist auch für Expertisen und Echtheitsfragen bei Ernst Ludwig Kirchner zuständig.

Im Gemälde „Kaffeehaus“ von 1927 löst Kirchner die Naturformen sehr weit auf. Dennoch vermittelt sich das Motiv des Kaffeehausbesuchs deutlich: das Sehen und Gesehen-Werden. Dafür veranschlagt die Galerie Henze & Ketterer 700.000 Franken. Foto: Galerie Henze & Ketterer

Gehandelt wurden Kirchner-Werke jüngst auch auf Auktionen in München. Bei Ketterer Kunst stieg das Waldbild „Sertigweg“ von 1937 von der unteren Taxe bei 500.000 auf den Hammerpreis von 850.000 und mit Aufgeld auf 1,1 Millionen Euro für den ausländischen Privatsammler. Der einzigartige Vier-Farb-Holzschnitt mit dem begehrten Motiv „Frauen am Potsdamer Platz“ von 1914 fiel dem Käufer bei 650.000 Euro zu, brutto macht das 838.500 Euro. „Ein sehr guter Preis für einen Holzschnitt“, kommentiert Auktionator Robert Ketterer, der das Unikat auf bis zu 700.000 Euro geschätzt hatte.

Hervorragende Kirchner-Arbeiten gingen indes auch bei Ketterer zurück. Die schwungvolle Lithografie „Russisches Tänzerpaar“ von 1909 blieb ohne Gebot, wie die schmale Fehmarn-Landschaft auf Leinwand aus dem Jahr 1912. Eine querformatige Fehmarn-Landschaft von 1913 war allerdings kurz zuvor bei Grisebach in Berlin für Bruchteile der Ketterer-Taxe vermittelt worden. Dort bezahlte der siegreiche Bieter 254.000 Euro.

Kirchners einzigartiger Vier-Farb-Holzschnitt mit dem begehrten Motiv „Frauen am Potsdamer Platz“ von 1914 wurde bei Ketterer in München am 5. Dezember bei 650.000 Euro zugeschlagen, brutto macht das 838.500 Euro. Foto: Ketterer Kunst

Nicht nur die noch nicht von allen Sammlern akzeptierten Werke des „Neuen Stils“ haben es schwer, sondern auch die von vielen verehrten Werke der „Brücke“-Zeit. Das Gemälde „Blühende Bäume“ von 1909 hat Kirchner 1931 auf der Rückseite mit einer konturbetonten Tänzerin mit Schatten bemalt. „1933 reichte er die Tänzerin als Vorderseite zu der Ausstellung in der Kunsthalle Bern ein und 1937 in Basel“, sagt Wolfgang Henze dem Handelsblatt. Im Auktionshaus Karl & Faber bot sich die seltene Gelegenheit, den ganzen experimentierfreudigen Kirchner in einem noch zu ersetzenden Rahmen zu erwerben. Das prachtvolle, aber unsensibel gerahmte Recto-verso-Bild hat dort am 4. Dezember nur den Vorbehaltszuschlag von 650.000 Euro gebracht. Die Taxe hatte bei 800.000 bis eine Million Euro gelegen. Für das Bild, das den frühen und den späten Kirchner vereint, hätte mehr drin liegen können. Der Erlös erreicht, wenn er realisiert wird, mit 825.500 Euro knapp das moderat formulierte Minimum.

Bei den Marktpreisen von Ernst Ludwig Kirchner lässt sich im Winter 2025 keine eindeutige Linie ziehen. In seinem Gemälde von der „Nachtfrau“, dem Kunstmuseum Bern von der Galerie Haas ausgeliehen, macht das Nachziehen der klar strukturierenden Linien hingegen Spaß, bei den „Schlittschuhläufern“ aus dem Hessischen Landesmuseum Darmstadt auch.

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„Kirchner x Kirchner“: bis 11. Januar 2026 im Kunstmuseum Bern. Der Katalog im Hirmer Verlag kostet im Museum 49 Franken.

„Ernst Ludwig Kirchners Neuer Stil“ in der Galerie Henze & Ketterer in Wichtrach/Bern bis 15. Mai 2026.

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