Deutscher Kulturförderpreis: Wie die KfW-Stiftung afghanischen Schriftstellerinnen Gehör verschafft

Die Frauen schreiben unter Pseudonym und dürfen nicht erkannt werden. (Von l. n. r.) Lucy Hannah (Untold Narratives CIC), Naeema G. (Autorin) und Beate Tröger (Moderation).
Hamburg. Mit 14 wusste die junge Afghanin Raha Mozaffari, dass sie Schriftstellerin werden wollte. Ein Lehrer hatte in der Schule eine Geschichte von ihr vorgelesen, und alle hatten applaudiert. Zu Hause durfte sie von ihrem Traum aber nichts erzählen. „Meine Mutter sieht den ganzen Erfolg eines Mädchens darin, dass es heiratet“, schreibt Raha.
Heute, zehn Jahre später, würde sich ihr Traum allmählich in Nichts auflösen, schreibt sie weiter, obwohl sie schon Geschichten veröffentlichen konnte: „Seit meiner Schulzeit lese und schreibe ich, aber nicht einmal mit den engsten Familienmitgliedern kann ich frei über das Schreiben reden.“
Das Recht, über die eigene Berufstätigkeit zu verfügen, das Recht zu lernen, sogar das Recht, allein das Haus zu verlassen – dies alles möchten die Taliban den Frauen in Afghanistan vorenthalten. Und sie tun es seit ihrer Machtübernahme im August 2021, oft mit Gewalt. Und dabei können sich die Taliban auf überkommene, patriarchal geprägte Denkweisen stützen, die in den Städten, Dörfern und Familien vorherrschen.
Was sich viele Frauen in Afghanistan aber trotzdem nicht nehmen lassen, ist das Recht zu schreiben. In kurzen Geschichten von ihren Erfahrungen, Träumen und Albträumen zu erzählen. Und in Briefen den Austausch mit anderen zu suchen. Dass diese Erzählungen die eigenen vier Wände verlassen können, auf Resonanz stoßen und ein Lesepublikum finden, dafür ist unter den heutigen Bedingungen Unterstützung von außen nötig.
Eine wichtige Initiative, um diese sonst ungehörten Stimmen zu fördern, ist das Projekt „Untold Literature – Write Afghanistan“, das die KfW Stiftung Afghanistan“, das die KfW Stiftung in Zusammenarbeit mit der Londoner Initiative „Untold Narratives“ seit 2020 organisiert. Dafür wird die Stiftung jetzt mit dem Deutschen Kulturförderpreis ausgezeichnet.

Auch Autorin Marie B. darf nicht erkannt werden.
Das Projekt setzt ganz unten an. Es geht darum, schreibende Frauen überhaupt erst einmal zu finden, sie aus der offiziell auferlegten, oft aber auch von den eigenen Familien erzwungenen Isolation zu holen. Diese Frauen sollen in ihrem Schreiben ermutigt werden, indem sie ein Publikum finden, aber auch Menschen, die sie im Rahmen von digitalen Schreibwerkstätten fördern und weiterbilden.
2020, also noch vor der Machtübernahme der Taliban, wurde eine landesweite Ausschreibung gestartet. Digital über das Internet, aber auch höchst analog über simple Aushänge auf Märkten wurden Geschichten gesucht. Mehr als 300 Frauen meldeten sich, 30 Autorinnen, die auf Farsi oder Paschtunisch schreiben, wurden von einer Fachjury ausgewählt. In Gruppenworkshops arbeiteten sie weiter an den Texten, unterstützt durch Lektorinnen und Übersetzerinnen.
Die Qualität der Texte war so überragend, dass eine Auswahl davon zuerst auf Englisch, über das Berliner Portal „Weiter Schreiben“ dann auch auf Deutsch erschien. Geschichten wie die Kurzgeschichte „Dunkles Glück“ von Raha Mozaffari, die wie alle Schriftstellerinnen in diesem Projekt aus Sicherheitsgründen nur unter Pseudonym schreibt.
Lebensbedingungen in der afghanischen Provinz
„Dunkles Glück“ erzählt von der jungen Rahima, die in einem abgelegenen Provinznest lebt und nach und nach erblindet. Deshalb bekommt sie von allen Seiten zu hören: „Die Chancen, dass du einen jungen, gesunden Mann heiraten wirst, sind gering.“ In der Tat entfernt sich ihre große Jugendliebe Ali von ihr und verschwindet eines Tages ganz aus dem kleinen Ort.
Rahimas Leben spielt sich jahrelang im engsten familiären Raum ab, bis sie mit 25 mit einem verwitweten Kriegsveteranen verheiratet wird. Rahima überwindet schrittweise die Fremdheit und beginnt, das Zusammenleben mit ihrem Ehemann zu gestalten. Als irgendwann Ali wieder im Dorf auftaucht, zeigt sich, dass er im Iran gearbeitet hat, um Geld für Rahimas Augenoperation zu sparen. Rahima steht plötzlich zwischen zwei Männern und der Entscheidung, ob sie ihrem Verstand oder ihrem Herzen folgen soll.

Die Frauen schreiben unter Pseudonym und dürfen nicht erkannt werden. (Von li. nach re.) Annika Reich (Weiter schreiben), Batool H. (Autorin) und Beate Tröger (Moderation).
Eine Erzählung, die die Lebensbedingungen in der afghanischen Provinz einfängt und zugleich eine universal gültige Konstellation beschreibt – so wirken viele der Geschichten, die durch das Projekt „Untold“ jetzt eine breite Leseöffentlichkeit gefunden haben. Die Berliner Autorin und Kritikerin Elke Schmitter hat sich beim Lesen dieser Geschichte an die britische Romanschriftstellerin Jane Austen erinnert gefühlt. Über die Initiative „Weiter Schreiben“ ist Elke Schmitter mit Raha Mozaffari in Kontakt gekommen.
Zusammen mit fünf Kolleginnen aus dem deutschen Literaturbetrieb nahm sie einen Briefwechsel mit Autorinnen aus Afghanistan auf, der ebenfalls über das Portal verfolgt werden kann. Die Briefe beschreiben zum Teil noch unmittelbarer als die Erzählungen, wie sich die ohnehin schon prekäre Stellung der Frauen in Afghanistan nach dem fluchtartigen Abzug der westlichen Truppen weiter verschlechtert hat – Nahaufnahmen einer Realität, deren Wahrnehmung hierzulande hinter den politischen Schlagzeilen zu verschwinden droht.
Strukturen schaffen, wo keine sind
„Mit dem Projekt Untold Literatures stärken wir die literarische Produktion und schaffen dafür Strukturen, wo keine sind“, erklärt Lutz-Christian Funke, Vorstand der KfW Stiftung. „Es geht darum, diese kreativen und mutigen Frauen in ihrem Schreiben zu fördern, aber auch neue Perspektiven auf anspruchsvolle Themen zu schaffen.“
Bereits 2016 hatte die KfW Stiftung den Deutschen Kulturförderpreis für das Projekt „Short Stories“ erhalten, das junge Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus der arabischen Welt gefördert hatte. Mit „Untold Literature“ hat die Stiftung an dieses Vorgängerprojekt angeschlossen. Solche Initiativen verlangen Zähigkeit und Kontinuität seitens der Förderer – und hier wirkt das Engagement der KfW Stiftung geradezu beispielhaft.
Und übrigens: Für welchen Mann entscheidet sich die junge Rahima am Ende der Erzählung „Dunkles Glück“ von Raha Mozaffari? Für den Ehemann, mit dem sie einen geregelten Alltag führt? Oder für Ali, die Liebe ihrer Jugend, der so lange fort war? Sie entscheidet sich dafür, nach Hause zu ihrem Ehemann zu gehen. Das Geld für die Operation gibt sie Ali zurück: „Ich habe mich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt.“ Eine klare, selbstbewusste Entscheidung. Jane Austen in Bamiyan, Afghanistan.



Lesetipp: Die Erzählungen der afghanischen Schriftstellerinnen und die Briefwechsel mit deutschen Kolleginnen: wirmachendas.jetzt/untold-weiter-schreiben-afghanistan
Mehr: Augustinum-Stiftung: Die Botschaft vom sinnvollen Leben





