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Twitter, SMS, Chats„Fetzenliteratur“ bedroht deutsche Sprache

Der Vorsitzende des deutschen Rechtschreibrats warnt angesichts verkürzter Sätze in SMS und auf Twitter vor Schäden an der Sprache - bis zum Analphabetismus. In Frankreich wird dagegen mit Twitter Lesen gelehrt. 03.01.2012 - 05:15 Uhr Artikel anhören

Lernen mit Twitter: In Frankreich funktioniert das.

Foto: AFP

München/Seclin. „Fetzenliteratur“ auf Twitter oder in SMS bedroht nach Ansicht des Rechtschreibrats-Vorsitzenden Hans Zehetmair die Sprachkompetenz junger Leute. „Eine junge Generation schreibt heute - um eine Liebe zum Ausdruck zu bringen - keine Briefe mehr, sondern „HDL“ - „Hab Dich lieb““, bemängelte er im Gespräch mit der Nachrichtenagentur dpa in München. „Unsere Zeit ist so schnelllebig geworden. Da müssen Sie sich nur die Twitter-Literatur ansehen, in der es keine ganzen Sätze mehr gibt.“ „Fetzenliteratur“ nennt Zehetmair, der auch Vorsitzender der Hanns-Seidel-Stiftung in München ist, das.

„Wir sind weltweit in zivilisatorischen Gesellschaften auf dem gefährlichen Weg, dass immer weniger gelesen, immer mehr Fetzenliteratur gepflegt, immer weniger geschrieben wird“, sagte er. Auch die Schule komme ihrem Bildungsauftrag in dem Bereich nur begrenzt nach. „Die Lehrer sind auch Kinder unserer Zeit und - bei allem guten Bemühen - gibt es auch bei ihnen oft diese Fetzenliteratur: super, geil und alles mit Ausrufezeichen.“ Hochschullehrer beklagten immer wieder die mangelhafte sprachliche Qualität von Diplom-, Magister- oder Bachelorarbeiten. „Man nimmt sich kaum noch die Zeit, ganze Sätze zu formulieren.“ Nach Angaben von Linguisten müssten rund 20 Prozent der 15-Jährigen heute als Analphabeten bezeichnet werden, sagte Zehetmair.

Eine Schwierigkeit sei auch die steigende Zahl an Anglizismen, die die deutsche Sprache überflute. „Sprache ist in vielen Bereichen ausschließlich verzweckt worden und ist überbordet mit Fremdeinflüssen. Ich bin nicht gegen Anglizismen im Allgemeinen, aber man sollte schon noch wissen, was die Worte auf Deutsch heißen.“ Das fehlende Hinterfragen sei aber „symptomatisch für eine Gesellschaft, die nicht mehr hinter die Dinge blickt und die Hintergründe nicht mehr beleuchtet“, sagte Zehetmair und warnte: „Eine solche Gesellschaft ist anfällig für Manipulation.“

Ein Gegenbeispiel gibt es in Frankreich. Hier lernen Grundschüler richtig Lesen und Schreiben – mit dem Kurznachrichtendienst Twitter. Ein ungewöhnliches Modell, doch in einem Ort in Nordfrankreich erfolgreiche Praxis.

Auf die Frage, wer denn laut vorlesen will, recken fast alle Schüler die Finger in die Höhe. Dabei sind die Siebenjährigen in der Privatschule Immaculée Conception im französischen Seclin auch nicht lesefreudiger als anderswo. Doch die Kinder dürfen aus dem Kurznachrichtendienst Twitter vorlesen, und den finden sie „cooler“ als ihre herkömmlichen Lernbücher. „Auf Twitter gibt es Bild und Ton, doch das mindert das Interesse an der Schrift nicht, im Gegenteil“, sagt die Lehrerin Céline Lamare zu ihren Erfahrungen.

Seit September setzt die junge Frau mit den halblangen lockigen Haaren die Kurznachrichten von maximal 140 Zeichen, die sogenannten „Tweets“, in ihrem Leseunterricht ein. Statt morgens wie in anderen Schulen die schwarze Tafel aufzuklappen, schaltet sie eine Art Riesenbildschirm an, auf dem in Großformat die Mitteilungen anderer Klassen in Frankreich, Belgien und Kanada erscheinen. Eine Nachricht aus Kanada ist vom Bild einer verschneiten Landschaft begleitet, das bei den Kindern Begeisterung hervorruft.

Die Schüler in Seclin verfassen dann kurze Antworten auf die Botschaften, die sie erst in ihr Heft schreiben müssen und die dann korrigiert werden. „Guten Tag, ich heiße Elise, ich wohne in Seclin und bin sieben Jahre alt“, schreibt eine Schülerin.

„Die 140 Zeichen bei Twitter passen gut zu ihrer Lernstufe“, sagt die Lehrerin. Außerdem zwinge der Kurznachrichtendienst die Kinder, an ihre „Leser“ zu denken und gebe so der Übung zusätzlich Sinn. „Man kann mit anderen Klassen reden, also strengt man sich mehr an“, sagt die kleine Valentine.

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Schulprojekte mit Twitter existieren auch in anderen Ländern, darunter in Deutschland. Doch meist ist es die Oberstufe, die mit dem Kurznachrichtendienst ihren Diskussionen eine neue Form verleiht. In Frankreich gibt es auf der Website Twittclasses 124 solcher Projekte, davon 37 für die Grundschule.

Da die Kinder sowieso mit dem Computer aufwachsen, lenkt der Bildschirm nach Ansicht von Lehrerin Lamare auch nicht vom Lernen ab. Im Gegenteil: „Wenn sie keinen Bildschirm vor sich haben, hören sie nicht zu.“ Ihre Schüler sind so sehr mit dem Computer vertraut, dass sie von sich aus Fotos auf einen USB-Stick laden und in die Schule mitbringen, um sie über Twitter zu verschicken.

Auch die Eltern stehen dem Projekt der Lehrerin zufolge positiv gegenüber. Anfangs seien sie noch skeptisch gewesen, was die Vertraulichkeit der sozialen Netzwerke angeht. Inzwischen aber „reden sie nur noch über den Spaß, den die Kinder damit in der Schule haben“.

dpa, afp
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