Kommentar: Scholz sah immer, was die Bürger nicht sahen


Es liegt im Wesenskern der Demokratie, dass Macht nur auf Zeit vergeben ist. Und trotzdem hat das Wahlergebnis, auf das der amtierende Bundeskanzler Olaf Scholz am Sonntag zusteuert, etwas Tragisches.
Der SPD-Politiker steht vor dem vermutlich dramatischsten Absturz, den ein amtierender Bundeskanzler seit den 60er Jahren - dem Jahrzehnt der Dreijahreskanzler Kurt-Georg Kiesinger und Ludwig Erhard - hinnehmen musste. Anders als Erhard aber, dem in erster Linie sein verfeindeter Vorgänger Konrad Adenauer das Amt madig machte, und Kiesinger, dem der Zeitgeist irgendwann entgegenstand, ist Olaf Scholz vor allem an sich selbst gescheitert.
Jener Kanzler, der sich immer für etwas schlauer als andere hielt, hat nicht nur sich überschätzt - sondern aus den Höhen, aus denen er auf seine Mitmenschen herabzublicken pflegte, auch die Dimension von drei Herausforderungen unterschätzt.
Da war zum einen die Herausforderung Ampelkoalition. Scholz war der erste Kanzler der Republik, der sich mit einer Drei-Parteien-Koalition (zumindest, wenn man CDU und CSU als Einheit begreift) auseinandersetzen musste. Scholz wagte das Experiment, über das der frühere CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet kürzlich in einem Gastbeitrag für das Handelsblatt schrieb: Eine erfolgreiche Ampelregierung hätte dazu geführt, dass die CDU mehrere Legislaturperioden in der Opposition geblieben wäre. Wenn die FDP das Wirtschaftliche, die Grünen den Klimabereich und die SPD das Soziale erfolgreich besetzt hätten, dann wäre für die CDU kein Platz mehr gewesen.
Das gelang aber nie, weil sich die Koalitionäre zu oft auf offener Bühne stritten - und Scholz diese zersetzende Dynamik des Dauerchaos lange unterschätzte. Ein fataler Fehler. Scholz selbst bedauert heute, dass er nicht früher die Reißleine gezogen hat.
Dann war da die Herausforderung Zeitenwende. Keine Bundesregierung war mit so gigantischen außenpolitischen Herausforderungen konfrontiert wie diese. Der Überfall Russlands auf die Ukraine veränderte alles. Und der Kanzler reagierte zunächst, rief in seiner vielleicht besten Rede die Zeitenwende aus.
Nur: Worte sind geduldig, die Wirklichkeit leider nicht. Und so drehte sich die Welt weiter, während der Kanzler versuchte, diese Zeitenwende mit Taten zu untermauern. Dabei konnte er sich lange nicht entscheiden, welche genau das sein sollten. Deutschland wurde so zwar zum zweitgrößten Unterstützerstaat der Ukraine - es wirkte aber immer so, als ob das gegen statt durch den Willen des Kanzlers passiert. „Wer bei mir Führung bestellt, bekommt Führung“, sagte Scholz einst. In der Ukrainefrage wurde er eher geführt - und zwar allzu oft am Nasenring durch die Manege.
Eine verschwendete Zeit für die Wirtschaft
Und dann war da die Herausforderung Wirtschaft. Scholz sah immer, was die Bürger und Unternehmer nicht sahen. Er erblickte blühende Landschaften und schwärmte von einer Wirtschaft im Land, die die Unternehmer so nicht kennen. Natürlich - dieses Land ist dank seiner wackeren Unternehmerinnen und Unternehmer noch immer die drittstärkste Volkswirtschaft der Welt.
Zur Wahrheit gehört aber auch: Wir haben zwei Jahre Rezession hinter uns. Und auch 2025 droht ein weiteres Rezessionsjahr. Da gibt es kein grünes Wirtschaftswunder, das Scholz einst ausrief, weit und breit.
Einen Plan, wie man einen Politikwechsel hinbekommt, kann Scholz auch nach drei Jahren nicht präsentieren. Er sieht sich als Reformer, sprach sogar davon, die „Kettensäge“ beim Bürokratieabbau anzusetzen. Doch eine wirkliche Wende konnte Scholz auch im Wahlkampf nicht plausibel erklären. Scholz forderte einen „Made in Germany“-Bonus für Investitionen und einen Mindestlohn von 15 Euro.
Aber Zukunftsthemen? Vermutlich beschäftigte sich Scholz während seiner Amtszeit mit Bildung, Innovation, Künstlicher Intelligenz (KI) und Forschung - allein: Es blieb im Verborgenen. Wie der Kanzler der drittgrößten Volkswirtschaft der Welt, die gerade ihr Geschäftsmodell verlor, ein neues finden will - das behielt Scholz für sich.




Es ist natürlich nicht ausgeschlossen, dass Scholz das Kanzleramt auf den allerletzten Metern doch noch verteidigt. Aber auch dann wäre es ein Ende. Denn egal, ob der künftige Kanzler nun Scholz heißt oder nicht: Er müsste das Amt grundsätzlich anders interpretieren als in den vergangenen drei Jahren.
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