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BuchkritikWie man eine Utopie realisiert

Schon bald werden Stationen auf dem Mond oder Mars entstehen. Was für ein Leben werden wir dort führen? Kolonien und Utopien auf der Erde geben Aufschluss.Thomas Jahn 27.03.2022 - 09:52 Uhr Artikel anhören

Wie wird die Menschheit in Zukunft leben?

Foto: Smetek

Düsseldorf. Ein Blick in die jüngste Gegenwart fällt ernüchternd aus. Krieg in der Ukraine: Jeden Tag sterben unzählige Menschen. Klima: Stürme fegen durchs Land, die Folgen der Flut im Ahrtal sind lange nicht beseitigt. Corona: Die Inzidenzzahlen fallen einfach nicht, täglich rafft das Virus Menschen dahin.

Eine Krise jagt die andere, als ob eine biblische Zeit der Plagen begonnen hätte. Wer sich noch an die Hoffnungen zu Silvester 2019 erinnert, der schüttelt sich ob seiner Naivität ein wenig: Die Zwanzigerjahre sind bislang alles andere als golden. Fortschritte in der Medizin, Computertechnik oder Raumfahrt vermittelten ein Aufbruchsgefühl, das sich jetzt zu verflüchtigen scheint.

Ein Sarkast würde sagen: „Immerhin erscheint jetzt ein Leben auf dem Mars verlockender als zuvor.“ Die New-Space-Revolution will schon in wenigen Jahren Kolonien auf dem Mond und dem Mars ermöglichen. Erst vor wenigen Tagen legte Elon Musk ein Datum für die Marsmission vor: Schon 2029 könnte sie stattfinden, 60 Jahre nach der Mondlandung. „Das Bewusstsein ist ein kurzes, flackerndes Licht in der Dunkelheit, das wir nicht ausgehen lassen können“, sagte der Gründer des Raumfahrtunternehmens Space X.

Die Begründung für eine Kolonie auf dem Mars meint Musk ernst. Oft spricht er davon, wie ein Asteroid die Erde treffen könnte. Auch würde die Erde in rund 500 Millionen Jahren von der Sonne verschluckt. Zu solch eher abstrakten Bedrohungen kommen in diesen Tagen konkrete hinzu. Beim Ukrainekrieg fürchten sich nicht wenige Menschen vor einer Ausweitung des Konflikts und dem Einsatz von Atomwaffen.

Die menschliche Zivilisation braucht einen Außenposten. Aber wie wird der aussehen? Werden wir dort die gleichen Fehler begehen wie auf der Erde? Oder friedlich und genügsam miteinander leben?

In seinem neuen Buch „Wunschland“ geht der Furtwanger Soziologe Stefan Selke diesen Fragen nach und beschreibt und analysiert zahlreiche Utopie-Versuche der Menschheit.

Von Henry Ford bis zu Peter Thiel: Unternehmer und der Neuanfang

Die Sehnsucht nach einer neuen Welt ist nicht neu. Der Begriff Utopie wurde schon im 16. Jahrhundert von dem humanistischen Autoren Thomas Morus geprägt. Der Diplomat und Dichter Bartomeleu del Bene schrieb das 1609 veröffentlichte utopische Gedicht. Zahlreiche Science-Fiction-Romane wie der „Weiße Mars“ beschäftigen sich mit einer Kolonie auf dem Planeten. Einer der beiden Autoren ist Roger Penrose, der 2020 den Nobelpreis für Physik erhielt.

Eine Gesellschaftsvision, eine bessere Welt: Die Utopisten der Vergangenheit gründeten „ideale Welten“ abseits der Menschheit. Sie versuchten es auf einen Berg in der Schweiz oder im Urwald in Brasilien. Sie wurden oft von finanzstarken Unterstützern realisiert. So gründete der belgische Unternehmersohn Henri Oedenkoven zusammen mit der deutschen Künstlerin Ida Hofmann 1901 die Alternativgruppe „Monte Verità“ in der Schweiz.

Der amerikanische Autohersteller Henry Ford baute 1928 mitten im Amazonas-Gebiet die Idealstadt „Fordlandia“. Viele Jahre verfolgte Risikokapitalgeber Peter Thiel das libertär-anarchistische Projekt „Seasteading“. Die Idee einer „schwimmenden Stadt“ unterstützte er mit 1,7 Millionen Dollar, warf aber 2011 hin – das Projekt sei „undurchführbar“.

Stefan Selke: Wunschland. Ullstein Berlin 2022 528 Seiten 26,99 Euro Foto: Handelsblatt

Musk träumt nun von der „Mars City“, über deren Struktur oder Ideale er aber bislang wenig gesagt hat. Der Space-X-Gründer spricht lieber über technische Details. So seien 1000 Starships, die neue Riesenrakete von Space X, nötig, um eine Kolonie mit 100.000 Menschen aufzubauen.

Wie Mars-City regiert wird, dürften zahlreiche Institutionen wie die Weltraumorganisation Nasa mitentscheiden. Nach der Lektüre von Selkes Buch ist eines klar: Musk darf nicht zu viel Entscheidungsgewalt besitzen.

Das zeigen die Lehren aus der Geschichte der Utopien. Die mächtigen Gründerväter, schreibt Autor Selke, nehmen ihre Gefolgschaft nur allzu oft als Spiegelbilder wahr. „Die Folge: Was dem eigenen Weltbild widerspricht, wird ausgefiltert oder verboten.“

Daran scheiterten eine ganze Reihe von Utopien, „Fordlandia“ oder „Celebration“ (der 1995 von Disney gebauten Musterstadt in Florida). „Utopische Modelle verwandeln sich recht schnell und meist unintendiert in repressive Siedlungen“, sagt Selke.

Woran Utopien scheitern: an zu viel und an zu wenig Autorität

Aber auch zu wenig Autorität und zu wenige Regeln können zum Problem werden. Daran zerbrach zum Beispiel „Monte Verità“, eine utopische Kolonie auf einem Berg am Lago Maggiore. Man ernährte sich vegan und salzfrei, „Luft und Licht“ galten als Grundlage für Gesundheit.

Nicht nur die Ernährung, auch die Kleidung war unkonventionell, Geld war verpönt, auch die Rechtschreibung wurde angegangen – Gründerin Hofmann erfand ihre eigenen Regeln, bei der alle Wörter klein geschrieben wurden, die geschriebene Sprache sollte verständlicher und funktionaler sein. Auf diese Weise wollte sie „konvenzionele forurteile der geselschaft“ aus dem Weg räumen, wie sie schrieb.

Eine Zeit lang ging das Experiment auf. Die Menschen lebten vom eigenen Anbau in der Landwirtschaft, auch verdiente die Kolonie einiges durch Eintrittsgeld und den Verkauf von Fotos und Postkarten – die Nacktbilder der Bewohner waren weltweit eine Sensation. Der Schriftsteller Herman Hesse oder Revolutionär Michael Bakunin waren zu Gast. Der berühmte Tanzlehrer Rudolf von Laban stieß zur Gruppe, sein dort entwickelter Ausdruckstanz ist bis heute Lehrstoff.

Anders als bei anderen Kolonien gab es keine dominante Führung. Die anfängliche Balance des sozialen Gefüges sprengten aber Nachzügler. So gründete Freud-Schüler Otto Gross seine eigene Gruppe innerhalb der Gruppe, die weniger durch Askese als durch Enthemmung die Selbstfindung versprach – womit Orgien unter Kokaineinfluss gemeint waren. Bei einem Besuch stellte Soziologe Max Weber irritiert fest, „in welchem Ausmaß hier ein angeblich autoritätsfeindlicher Mentor in einem angeblich autoritätsfeindlichen Milieu als Führer und Guru akzeptiert wird“.

Monte Verità zerfiel zudem in zwei Gruppen: die „Fundis“ und die „Realos“. Immer mehr setzten sich die Realisten durch. Es wurde ein Sanatorium gebaut, in dem es erst nur vegane Kost gab. Doch 1909 erlaubte man es den Gästen, Alkohol oder Kaffee zu trinken, später Eierspeisen und andere Kost zu essen. Unter den Bewohnern der Kolonie kam es zur Doppelmoral, selbst die engsten Mitarbeiter von Oedenkoven gingen heimlich in umliegende Lokale. Die Gruppe löste sich mit der Zeit auf. 1917 kehrten Oedenkoven und Hofmann Monte Verità enttäuscht den Rücken.

„Die Qualität der Regeln bestimmt auch den Erfolg des Wunschlandes“, schreibt Selke. „Projekte ohne verlässliche Regeln entwickeln sich in Richtung Anarchismus.“ Es ist eine Ironie der Geschichte, sowohl Anarchisten als auch Alleinherrscher ließen die Kolonien an der gleichen Sache scheitern: „Das Ego der Utopisten verhinderte kollektive Lernprozesse“, schreibt Selke.

Die Feindseligkeit des Weltraums hat ihre Vorteile

Das Weltall ist ein lebensfeindlicher Ort. Für die Raumfahrt und den Aufbau einer Weltraumkolonie birgt das immense Herausforderungen: technologisch so gut aufgestellt zu sein, dass das Überleben gesichert ist.
Die Schwierigkeiten bergen in sich aber auch einen Vorteil. Außerhalb der Erde ist keine Verschwendung erlaubt, zu kostbar ist alles – Strom, Wasser, Nahrung, Sauerstoff. „Frugalität für alle“, wie es der Philosoph Peter Sloterdijk ausdrückt.

Das wirkt sich wohltuend auf die Gemeinschaftsordnung aus, wie Astronauten berichten. Zusammenarbeit ist alles, jeder hilft, so gut sie oder er kann. Dieser Geist der Kooperation herrscht auf der Internationalen Weltraumstation ISS. Sie ist heute noch einer der wenigen Orte, an dem Amerikaner und Russen gemeinsam arbeiten – auch wenn das Projekt durch den Ukrainekrieg gefährdet ist.

Was Raumfahrer zusammenschweißt, ist nicht nur die Bedrohung von außen – sondern auch der „Overview-Effekt“, schreibt Selke. Der Anblick der Erde als ferner Planet, eine völlig neue Sicht der Welten, hat bislang immer seine Wirkung getan. Laut dem Soziologie-Professor waren die ersten Fotos von der Erde aus dem Weltraum maßgeblich für die Umweltbewegung – zeigen die Bilder wie „Earthrise“ oder „Blue Marble“ doch, wie klein und fragil die Erde im gigantischen Weltall ist.

Aus der Ferne werden Unterschiede der Menschen wie in der Religion, Herkunft oder Ideologie nebensächlich. Der Blick in den Kosmos eint die Menschen. Immer wieder berichten Astronauten von diesem Eindruck, der ihr Leben veränderte.

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Bislang konzentriert sich die Planung einer Expedition und Kolonie auf dem Mars oder Mond vor allem auf das Technische. Das birgt eine Seelenlosigkeit in sich, die Selke mit seinem Buch ausfüllt. Nicht nur seine Hoffnung ist: „Mars City“ könnte ein Labor und Vorbild für eine wahrhaft globalisierte Menschheit werden – wenn man aus den Fehlern der Vergangenheit lernt.

Mehr: Diese 20 Tech-Trends werden das Jahr 2022 prägen.

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