Buchrezension: Warum KI zugleich revolutioniert und enttäuscht

Die Zukunft der Welt ist in der Hand der künstlichen Intelligenz.
Düsseldorf. Thomas Edison ließ 1879 die Glühbirne leuchten. Wer glaubt, dass danach eine Welle von Erfindungen und Veränderungen einsetzte, der irrt. Zwei Jahrzehnte später hatten nur drei Prozent der US-Haushalte einen Stromanschluss, bei den Fabriken lag der Wert kaum höher. Es dauerte vier Jahrzehnte, bis sich Elektrizität durchsetzte. Warum so lange?
Diese Frage stellen sich Ajay Agrawal, Joshua Gans und Avi Goldfarb in ihrem Buch „Power and Prediction“. Ihre Analyse ist lesenswert, allein schon aufgrund ihrer Expertise: Die drei kanadischen Ökonomen und KI-Experten sind 2018 durch ihr Buch „Prediction Machines“ bekannt geworden. Der Bestseller beschrieb die Fortschritte bei Künstlicher Intelligenz (KI).
„Das ist das beste Buch über die beste Technologie, die auf uns zukommt“, lobte damals Lawrence Summers, Professor und ehemaliger Chefökonom der Weltbank. Derzeit spricht alle Welt über ChatGPT und KI. Die Fortschritte sind erstaunlich, aufgrund größerer Datensätze und Computerkapazitäten erkennen neuronale Netze und Maschinenlernmodelle immer besser Gegenstände oder Personen, schreiben Texte und analysieren chemische Komponenten oder Röntgenbilder.
Allerdings: Auch vor fünf Jahren war die Begeisterung für KI groß – um danach einzuschlafen. Und das könnte wieder passieren. Denn wir befinden uns in der „Zwischenzeit“, wie es die Autoren beschreiben. Damit meinen sie die Zeitspanne, die zwischen der Einführung einer grundlegenden Innovation und ihren wirtschaftlichen Folgen vergeht.
Bei Wirtschaftsberatungen nennt sich das „Hype Cycle“: Erst wird eine neue Technologie mit Euphorie aufgenommen und in ihren Folgen überschätzt. Dann folgt eine Phase der Ernüchterung und Enttäuschung – in der die Konsequenzen unterschätzt werden.

Es ist erfrischend zu lesen, wie sich die Autoren selbst der Überschwänglichkeit anklagen. „Unsere Spekulationen haben sich als falsch erwiesen – als völlig falsch“, heißt es da über ihre früheren Vorhersagen zur „Kommerzialisierung von KI“. Sie hatten einen raschen Siegeszug vorhergesagt.
Ein wenig entschuldigend zitieren sie Geoffrey Hinton. Der Professor und „Pate des Deep Learnings“ sagte 2019 dem Berufsstand der Radiologen ein baldiges Ende vorher – weil KI Röntgenbilder besser auswerten kann. Technologisch hatte Hinton recht, schreiben die Ökonomen in dem Buch, aber es gäbe deswegen keineswegs weniger Radiologen.
Wie konnten sie sich nur so täuschen? Auf mehr als 250 Seiten gehen die Autoren der Frage nach. Am Beispiel der Elektrizität schildern sie anschaulich, warum Schlüsselinnovationen ihre Zeit brauchen.
Ihre Veränderungskraft ist fast zu groß, anfangs finden sie kaum Anwendungen. So wurden Fabriken Ende des 19. Jahrhunderts mit Dampfmaschinen betrieben, eine Umstellung auf Strom kam für die meisten Besitzer nicht infrage. Neue Maschinen und Turbinen kosten schließlich Geld.
Wer früh dabei ist, erntet schneller Erfolge
Erst mit der Zeit kristallisierte sich der wahre Vorteil von Strom heraus: Anders als im Dampfbetrieb müssen die Maschinen nicht nah an der Energiequelle stehen. Das ermöglicht einen anderen Produktionsaufbau, wie ihn beispielsweise Henry Ford mit der Fließbandproduktion in die Wirklichkeit umsetzte – aber erst 1914, ganze 35 Jahre nach dem Aufleuchten der Glühbirne.
Vor allem damals aufstrebende Industrien wie die Auto- oder Chemieindustrie setzten als erste auf Strom. So wie heute Unternehmen wie Amazon, Google oder Meta mit ihren digitalen Geschäftsmodellen KI stark einsetzen.
Das „Innovator‘s Dilemma“ hindert alteingesessene Branchen daran, sich neu aufzustellen, schreiben die Autoren: Zwar sehen die Unternehmen den Nutzen von KI, fürchten aber, ihr gut laufendes Geschäft zu verändern. Die Sorge besteht auch bei Tech-Riesen wie Google. Der Suchmaschinenanbieter fürchtet die Auswirkungen von KI auf das Geschäft, weswegen laut US-Medien die eigene KI Lamda zurückgehalten wurde.
Als Ausweg wählen die Unternehmen einen Weg der Kompromisse: Sie führen KI punktuell ein. So nutzen Banken KI, um Finanzbetrügereien aufzuspüren. Da ist es dann wie bei der Glühbirne in der Fabrikhalle: Die Anwendung stört nicht das bisherige Geschäftsmodell und kann nahtlos integriert werden.
Die wahre Kraft von KI liegt allerdings ganz woanders – in der Systemänderung. Wie der Elektromotor irgendwann doch die Dampfmaschine ersetzte. Aber das braucht Zeit, Widerstände gibt es viele. Nicht nur bei Mitarbeitern oder Managern, die die Veränderung scheuen. Das Problem steckt laut den Autoren tiefer: in den „Standardverfahren“, die sich in Vorschriften, Hierarchien und Regeln eines Unternehmens verankert haben.
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Damit wird sichergestellt, dass die einzelnen Teile der Firma und die Mitarbeiter möglichst effizient miteinander arbeiten können. Regeln sind das „Klebemittel“, das Fehler ausschließt und Verlässlichkeit garantiert.
Allerdings: Regeln verhindern auch Reformen. Das Potenzial von KI kann nicht voll ausgeschöpft werden: nämlich präzise Vorhersagen zu treffen, die so gut wie nichts kosten. Das verändert die Entscheidungsfindung in einem Unternehmen. Bislang gehen Vorhersagen und Entscheidungen Hand in Hand; KI löst das auf und ermöglicht neue Geschäftsideen.
Ein Beispiel wäre die Lieferung von Waren, bevor die Kunden sie bestellt haben. Amazon und andere Unternehmen experimentieren damit. KI könnte es ermöglichen, dass wir jeden Tag ein Angebot an Waren vor der Haustür haben, von denen wir die nehmen, die wir brauchen. Das Einkaufen wäre abgeschafft.
Allerdings stößt die Idee auf viele Probleme: Was tun mit den zurückgeschickten Waren? Auch müssten die Transportkosten viel niedriger sein als heute. An diesem Beispiel zeigt sich die Denke der Autoren: Die KI kann zwar recht genau unser Einkaufsverhalten vorhersagen, die Umsetzung aber stößt an Systemgrenzen. Doch wäre es denkbar, das System so umzubauen, dass die Idee aufgeht: mit effizientem Transport und Wiederverwendung von zurückgeschickten Waren.
KI, so die These, wird sich in Branchen und Unternehmen am stärksten auswirken, in denen es viele Regeln und „versteckte Unsicherheiten“ gibt. So sind in Flughäfen die vielen Geschäfte Ausdruck der Unsicherheit des Passagiers, wann genau er von zu Hause aufbrechen muss, um das Flugzeug zu bekommen. Eine KI-gesteuerte App könnte das ändern – und die Einnahmen der Läden bedrohen.
Personalisiertes Lernen mit KI
Ein weiteres Beispiel im Buch sind Schulen. Dort gibt es jede Menge Regeln, um sicherzustellen, dass alle Schüler eine ausreichende Bildung bekommen. Dass Kinder verschieden schnell lernen und unterschiedliche Begabungen haben, ist klar. Aber trotzdem werden sie in Klassen mit gleichen Lerninhalten gepresst.


Personalisiertes Lernen könnte die Spannung auflösen, argumentieren die Autoren. Auf bestimmte Lerninhalte trainierte KI vermittelt Mathematik oder Grammatik besser und direkter einzelnen Schülern. Die Lehrer können sich auf Gruppenarbeit oder bestimmte Schüler konzentrieren, um soziale oder andere Probleme aus der Welt zu schaffen.
Das Fazit der Autoren: Auch wenn es noch einige Zeit dauern wird, bis KI so wie einst die Elektrizität unsere Wirtschaft umwälzen wird – nicht die Hände in den Schoß legen. Wer KI früher einsetzt, dem winken enorme Vorteile: „Je eher sie implementiert wird, desto besser wird die Vorhersage.“ Wenn eine KI nur ein bisschen besser ist als eine andere, dann werden mehr Kunden sie nutzen. „Mit mehr Nutzern erhält die KI mehr Daten, mit mehr Kundendaten trifft die KI bessere Vorhersagen. Das zieht neue Kunden an.“
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