Gastkommentar – Expertenrat: Green Deal heißt nicht, Benzin durch Wasserstoff zu ersetzen

Die Zukunft des Planeten ist auf den Straßen längst Thema.
Die Trielle, die wir in den vergangenen Wochen als angeblich neue Formate der Politikvermittlung über uns ergehen lassen mussten, haben etwas für unser aktuelles Diskursklima sehr Bekanntes zutage gefördert: wie weit man die Realität ungestraft aus Debatten heraushalten und Hinweise der Wissenschaft beharrlich ignorieren kann.
Natürlich liegt das auch daran, dass das alte Leitmedium TV mittlerweile fest in der Hand einer populistischen Aufmerksamkeitsökonomie ist, der es darum geht, Schockwellen der Empörung und des Dissenses zu erzeugen.
Obwohl vor allem im ersten Triell die ModeratorInnen versuchten, die KandidatInnen mit bekannten Trigger-Vokabeln wie „Verbote“, „Schulden“, „Steuersenkung“ auf das Glatteis der Erregungsdemokratie zu führen, lehnten Baerbock, Laschet und Scholz diese Einladung einhellig ab.
Was folgte, beschrieb ein Kommentator der „Süddeutschen Zeitung“ aus unerfindlichen Gründen fast als Sternstunde der Demokratie.
Tatsächlich kam der Nichtangriffspakt deshalb zustande, weil offensichtlich alle drei KandidatInnen mit der Faustregel ins Rennen geschickt wurden, das Wahlvolk ja nicht zu verunsichern oder gar die Komfortzonen unserer Wohlstandsgesellschaft infrage zu stellen.
Wie die Trielle die Realität aussperren
Abgestoßen von den martialischen Showdowns der letzten beiden US-Wahlkämpfe, die sinnbildlich ein dramatisch in sich gespaltenes Land darstellten, sperrten die sturzlangweiligen Trielle kurzerhand die Realität und damit den Blick in die Zukunft aus.
Laschet wird dies eine historische Niederlage bescheren. Die Scholz-SPD wird – zumindest vorübergehend – vom Nichtvorhandensein einer konservativ-bürgerlichen Zukunftsvision profitieren.
Aber der große Verlierer könnten die Grünen sein, deren Anteil an der kollektiv-parlamentarischen Realitätsverweigerung darin bestand, mit der Hand an der Macht ihre Kernkompetenz als Innovationstreiber und Unruhestifter korrumpiert zu haben.
Ein fataler Fehler von Team Baerbock: die pragmatische Regierungsfähigkeit (Annalena Baerbock als „Merkel 2.0“) durch den Verzicht auf eine mutige und zustimmungsfähige Zukunftsvision erkauft zu haben, mit der sich definitiv viele Menschen im Land für eine ernst gemeinte sozial-ökologische Transformation hätten begeistern lassen.
Denn unbestritten ist (vor dieser Erkenntnis wird uns der Weichspülgang der Trielle nicht bewahren), dass wir einen Green Deal, wie er von der EU gefordert wird, nur hinbekommen durch Gründer- und Forschergeist, Lust am Experiment und an neuen Wegen, Tatkraft, aber auch die Fähigkeit zu scheitern, ohne sofort den Kopf in den Sand zu stecken.
Franklin D. Roosevelt, der US-Präsident des „New Deals“, hat das in den 1930er-Jahren auf die berühmte Formel gebracht: „Es entspricht dem gesunden Menschenverstand, eine Methode zu nehmen und auszuprobieren. Wenn sie versagt, lasst es uns offen zugeben und eine andere versuchen. Aber lasst uns um Himmels willen irgendetwas versuchen.“
Vier Weichenstellungen für einen Green Deal
Ein solcher Green Deal ist das Gegenteil der technokratischen Pseudo-Wende à la FDP, die davon träumt, dass wir nur Benzin durch Wasserstoff ersetzen müssen, damit alles beim Alten bleibt.
Von wissenschaftlicher Seite gibt es längst keine Zweifel mehr, dass wir diese radikale Transformation schnellstmöglich beginnen müssen. Und wir sind fest davon überzeugt, dass wir das schaffen können.
Dafür sind vor allem die folgenden vier Weichenstellungen wichtig, die vor allem unseren Umgang mit Natur und Technik betreffen:
Das „Naturkapital“ ist dagegen um dramatische 40 Prozent gesunken. Wörtlich heißt es in dem Bericht: „Wir sind alle zusammen darin gescheitert, eine nachhaltige Beziehung zur Natur aufzubauen.“
Dasgupta zufolge gibt es drei Produktionsfaktoren auf der Welt: Arbeit, Kapital und Natur. Auf Basis dieser ökonomischen Trias (kein Triell!) schlägt er eine neue „Grammatik“ für den Umgang der Wirtschaft mit Natur vor.
Dasgupta sieht vier Wege, um den Krieg mit der Natur zu beenden: erstens weniger konsumieren, zweitens weniger Kinder bekommen, drittens die Natur effizienter nutzen, zum Beispiel durch Gentechnik und durch geringeren Fleischkonsum. Und viertens in die Natur investieren, beispielsweise für besseren Naturschutz und Wiederaufforstung.
Das Problem: Nach wie vor ist die Technologie des Carbon-Capturings nicht ausgereift und viel zu teuer (weitere positive Entwicklungen jedoch auch keinesfalls ausgeschlossen). Spezielle Maßnahmen wie das Solar-Geoengineering, bei dem beispielsweise Kalziumcarbonat-Partikel in die Erdatmosphäre geschossen werden, könnten zu Abkühlungseffekten führen.
Stoppt man jedoch die Partikelzufuhr, heizt sich die Erdatmosphäre schlagartig auf. In nächster Zeit muss die Frage beantwortet werden, wie weit wir überhaupt bei der Kontrolle der Natur gehen können. In „Under A White Sky“ hat sich Elizabeth Kolbert mit dem Geoengineering beschäftigt.
Sie hebt hervor, dass grundlegende Eingriffe von Technologien in die Ökosysteme mehr oder weniger seit 10.000 Jahren stattfinden. Geoengineering könnte sich so gesehen als eine alternativlose „Chemotherapie der Erde“ aufdrängen. Die Entscheidung darüber muss im politischen Raum und in Hinblick auf die Lebensbedingungen gegenwärtiger und künftiger Generationen gefällt werden.
Um die gigantische Herausforderung des Klimawandels zu bewältigen, muss sich die öffentliche Hand mehr denn je als Trendinkubator und Risikopartner für Unternehmen aufstellen. Das erfordert mehr als die Rolle des mit der Gießkanne umherwandelnden Geldverteilers.
Wir brauchen einen schnellstmöglichen Systemaustausch: Statt Erdöl, Erdgas, Kohle und Verbrennungsmotoren setzt das Techniksystem der Zukunft auf Solarenergie, Energiespeicher, Wärmepumpen und Elektrofahrzeuge.
Soll die große Transformation des Green Deals gelingen, brauchen wir außerdem neue Kooperationsverhältnisse zwischen Staat und Unternehmen, internationale Netzwerke und geschlossene Verwertungskreisläufe. Dabei konkurriert der Staat nicht mit der Privatwirtschaft beim Design von zukunftswichtigen Märkten - seine Aufgabe besteht darin, den Übergang in die postfossile Ära in wacher Kooperation mit den anderen Akteuren zu gestalten.
Als Risikoabsorptionsinstanz fällt dem Staat in den kommenden Jahren die Aufgabe zu, nicht nur „jene Entscheidungen zu treffen, die niemand trifft, wenn der Staat sie nicht trifft“, wie es der britische Ökonom John Maynard Keynes formulierte , sondern auf allen relevanten Zukunftsfeldern Impulse zu setzen, ohne den Unternehmen und der Zivilgesellschaft Vorschriften zu machen.





Eike Wenzel ist Autor des Buchs „Das neue grüne Zeitalter: Wie der Green New Deal unsere Art zu leben radikal verändern wird“. Dieser Text ist der zweite Teil einer dreiteiligen Serie über das Zusammenspiel von Technologie und Nachhaltigkeit im Vorfeld der Bundestagswahl.





