Gastkommentar: Europa braucht eine Agenda für wirtschaftliche Sicherheit

Abraham L. Newman ist Professor für Politologie an der Georgetown University und derzeit an der American Academy in Berlin, wo er die europäischen Reaktionen auf wirtschaftliche Erpressung erforscht.
Die Reise von Bundeskanzler Olaf Scholz nach Japan zum G7-Gipfel wird den meisten Deutschen nicht sonderlich ungewöhnlich erschienen sein; ein zentraler Diskussionspunkt – die wirtschaftliche Sicherheit – hingegen wahrscheinlich schon.
Zwischen Corona, Russlands Krieg gegen die Ukraine und wachsenden technologischen Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und China hat dieses Thema die deutsche und europäische Außenwirtschaftspolitik aufgewühlt. Dabei könnte es auch einen neuen Grundpfeiler für die transatlantischen und transpazifischen Beziehungen bilden.
Jahrzehntelang hat sich Deutschland mit einer einfachen Geschichte präsentiert, in der Handel mit Frieden und Wohlstand verbunden war. Doch ein Happy End wird es nicht geben.
Wie Außenministerin Annalena Baerbock warnte, wird „Wirtschaftskraft vielerorts rücksichtslos für politische Machtspiele eingesetzt“. Diese als politische Waffe eingesetzte ökonomische Abhängigkeit ist Teil eines umfassenderen Wandels in den internationalen Beziehungen.
Sie sind ein neues Schlachtfeld, auf dem Länder in einer Weise von lebenswichtigen Infrastrukturen abgekoppelt werden können, dass ihre Wirtschaft und Politik bedroht wird.
Berlin muss sich stärker darum kümmern, die Schwachstellen von wirtschaftlichen Verflechtungen zu verstehen
Das G7-Treffen in Hiroshima im vergangenen Mai hat einen neuen Weg angedeutet, indem es die wirtschaftliche Sicherheit voranstellte. Die japanische Regierung hat eine Debatte in Gang gesetzt, die nun Früchte trägt.
Die Gruppe erklärte: „Die Versuche, wirtschaftliche Abhängigkeiten als politische Waffe einzusetzen, bei denen G7-Mitglieder und unsere Partner, einschließlich kleiner Wirtschaftsnationen, gezwungen werden, sich zu fügen und sich anzupassen, werden scheitern und Konsequenzen nach sich ziehen.“
Vor allem haben die G7-Staaten ein Instrumentarium zur gemeinsamen Abschreckung solcher Erpressungen ins Leben gerufen. Dies folgt auf die Ankündigung von EU-Präsidentin Ursula von der Leyen, dass die Gemeinschaft ihre eigene Agenda für wirtschaftliche Sicherheit entwickeln werde. Die ersten Eckpunkte werden diesen Dienstag in Brüssel vorgestellt und müssen von der deutschen Regierung und Gesellschaft beachtet werden.
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Wirtschaftliche Sicherheit verlagert den Schwerpunkt weg vom Machtstreben hin zu den Schwachstellen, die durch die globalisierte Wirtschaft entstehen. Gesellschaften müssen sich auf Erschütterungen wie Corona vorbereiten, aber auch Schutzmaßnahmen gegen Manipulationen politischer Widersacher entwickeln, wie das Beispiel der russischen Pipeline-Politik zeigt.
Fern von einfachem Protektionismus schützt eine klare Agenda für wirtschaftliche Sicherheit die positiven Aspekte der Globalisierung und zeigt gleichzeitig die Risikofaktoren auf. Versäumt es Europa, seine eigene Strategie zu konkretisieren, wird die Welt das mit enormer Entkopplung überkompensieren, und es werden Zivilgesellschaft und Unternehmen sein, die den Preis dafür zahlen.
Um hier erfolgreich zu sein, muss die deutsche Regierung viel mehr investieren, um die Schwachstellen zu verstehen, die in den wirtschaftlichen Verflechtungen lauern. In Washington befassen sich Heerscharen von Sachverständigen mit der Lieferkette für Halbleiter. In Berlin ist es hingegen nur eine Handvoll – ein Problem, das sich in allen wichtigen Netzwerken der Weltwirtschaft wiederholt.
Die neue Strategie sollte nicht nur als Abgrenzung zu China wahrgenommen werden
Eine entsprechende Neuausrichtung würde nicht nur Unternehmen vor ausländischem Druck schützen, sondern könnte auch als Fundament für eine neue transatlantische Partnerschaft dienen. Angesichts der geringen Fortschritte bei der Wiederbelebung eines regelbasierten internationalen Handelssystems besteht auf beiden Seiten dringender Bedarf an einem neuen Zukunftsmodell für die Gestaltung ihrer Beziehungen. Andernfalls drohen weitere Streitigkeiten wie die um das Inflationsbekämpfungsgesetz.
Die Kunst wird darin bestehen, dafür zu sorgen, dass diese Strategie nicht nur als neues System zur Abgrenzung gegen China besteht, sondern als Baustein für eine sicherere Welt gesehen wird. Europa ist in der Lage, diese Bemühungen zu steuern, indem es die Reaktionen auf Wirtschaftserpressung koordiniert, aber auch signalisiert, wann die entsprechenden Instrumente nicht eingesetzt werden sollen.
Wie Scholz im vergangenen November auf einer Reise nach China erklärte, muss Deutschland „einseitige Abhängigkeiten abbauen“. In einigen Fällen wird Europa womöglich auf eigene Faust handeln wollen, vermutlich aber in Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten, Japan und anderen Ländern für mehr Diversität und Resilienz sorgen.
Wenn Europa diesen neuen, auf wirtschaftliche Sicherheit ausgerichteten Kurs einschlägt, kann es sowohl seine Interessen als auch seine Bevölkerung am besten schützen.






Der Autor: Abraham L. Newman ist Professor für Politologie an der Georgetown University und derzeit an der American Academy in Berlin, wo er die europäischen Reaktionen auf wirtschaftliche Erpressung erforscht.
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