Gastkommentar: Europas größte Stärke bei KI sind die Daten unserer Industrie
Künstliche Intelligenz (KI) ist kein technologischer Trend; sie ist eine Schlüsseltechnologie unserer Zeit. Der Wandel, den sie bringt, stellt Europa vor eine zukunftsweisende Frage: Wer stellt die Regeln dieser neuen Ära auf? Die Antwort entscheidet über unseren Wohlstand, unsere Sicherheit und unsere Freiheit.
Um die wahre Kraft der KI zu begreifen, müssen wir sie entzaubern. Im Kern ist sie stumpfe Mathematik – die Berechnung von Wahrscheinlichkeiten auf Basis unvorstellbarer Datenmengen. Diese Rechenkraft ist die Dampfmaschine des 21. Jahrhunderts.
Sie optimiert Abläufe im Büro ebenso wie in der Fertigung. Das Ergebnis sind immense Effizienzsprünge. So nahm ein komplexer Revisionsbericht früher drei Tage in Anspruch - heute stellt ein spezialisiertes KI-Modell ihn in drei Stunden fertig. Die dadurch freigewordene Kapazität ist der eigentliche Gewinn. Wir können sie nutzen, um uns den großen strukturellen und gesellschaftlichen Herausforderungen zu widmen.
Der Treibstoff dieser neuen Dampfmaschine sind Daten. Unser größter Schatz in Europa ist unser über Jahrzehnte aufgebautes industrielles Domänenwissen. In Deutschland gibt es Weltmarktführer für Greiftechnik, die unerlässlich ist für die moderne Automatisierung von Produktionsanlagen.
Ein Unternehmer in dem Bereich hat uns erzählt, seine Greifsysteme gebe es längst als Kopie aus Asien. Bisher konnte aber niemand das dahinterliegende System kopieren, das für den effizienten Einsatz nötig ist. Derartig tiefgehende, spezialisierte Datensätze bilden die Grundlage unserer digitalen Zukunft.
Wir brauchen eigene, souveräne Infrastrukturen
Es gilt der Grundsatz: Data is the new Code. Statt uns im Wettbewerb um den generalistischen Holzhammer „Large Language Model“ zu verlieren, müssen wir unsere Stärke im geschärften Skalpell suchen. Modelle, die mit unserem spezifischen Wissen trainiert sind, erzielen in Industrie und Wissenschaft eine unübertroffene Präzision. Das ist unser europäische Weg zu globaler Relevanz.
Die Ambivalenz der KI ist gewaltig: Die Vorteile sind enorm, die Risiken können es ebenso sein. Die größte Gefahr ist die digitale Abhängigkeit. Wer unsere Daten und die Verarbeitung kontrolliert, kontrolliert unsere Zukunft.
Die Abhängigkeit von außereuropäischen Konzernen wird zur Bedrohung für Europas Souveränität. Wir müssen in der Lage sein, in unserem eigenen Handlungsraum selbstbestimmte Entscheidungen zu treffen. Deshalb ist der Aufbau eigener, souveräner Infrastrukturen eine strategische Notwendigkeit.
Die europäische Antwort auf diese Risiken ist der AI Act. Es ist richtig, klare Regeln für vertrauenswürdige KI zu schaffen und unsere europäischen Werte zu schützen - auch und vor allem beim Datenschutz.
Hier liegt aber auch das regulatorische Paradoxon: Die Technologie ist oft weiter als unsere Genehmigungsverfahren. Blinde Deregulierung hilft niemandem. Mit kompletter Deregulierung geben wir unsere Datenschätze aus der Hand.
Wir brauchen Balance: Eine zu starke, detailverliebte Regulierung erstickt Innovation im Keim und beeinträchtigt unsere Wettbewerbsfähigkeit dauerhaft. Wir dürfen nicht aus Angst vor den Risiken die Chancen verpassen.
Kontrolle muss Innovation ermöglichen, nicht verhindern. Gleichzeitig muss sie den Kern unserer Wertschöpfung - unsere Daten - schützen. Hier müssen wir handeln.
Vier Prinzipien für den Aufbau von KI-Infrastruktur
Die Transformation zur KI wird gut, wenn wir sie aktiv gestalten. Die Expertenkommission „Wettbewerb und KI“ soll diese aktive Rolle mit sichern. In der Kommission wollen wir zeigen, wie Deutschland das immense Veränderungspotenzial von KI im Sinne europäischer Werte und unserer Wettbewerbsfähigkeit mitgestalten kann.
Politik, Wirtschaft und Wissenschaft müssen eine strategische Allianz formen, um im Rennen um KI Deutschlands und Europas Turbo zu zünden. Die Kommission ist ein wichtiger Baustein dieser Allianz, denn wir müssen unsere Kräfte bündeln: im Aufbau souveräner digitaler Infrastruktur; im Investieren in unser einzigartiges industrielles Domänenwissen und im Schaffen von klaren, innovationsfreundlichen Rahmenbedingungen
Dafür hat die Kommission erste Rahmenbedingungen und Handlungsempfehlungen vorgelegt, die bis März 2026 nachjustiert werden können. Aus Sicht der Expertenkommission sollte der Ausbau von KI-Infrastruktur vier Prinzipien folgen: Zunächst muss eine Basis-Infrastruktur aufgebaut werden, die insbesondere Rechenzentren und Cloud-Computing umfasst. Außerdem sollten wir europäisch denken und eine Zersplitterung von Fähigkeiten in der EU vermeiden.
Drittens sollten wir marktwirtschaftliche Strategien verfolgen, um tragfähige Geschäftsmodelle und damit Wettbewerb zu sichern. Und natürlich muss der Zugang zu KI-Infrastruktur einfach sein, sodass auch mittelständische Unternehmen, Start-ups, Forschungs- und Bildungsinstitute profitieren können.
Die KI-Revolution sollte uns nicht von außen diktiert, sondern von europäischen Akteuren mit Vertrauen, Fairness und ethischer Verantwortung gestaltet werden. Damit schaffen wir gemeinsam eine erfolgversprechende digitale Zukunft für Europa.
Der Autor: Rolf Schumann ist Co-CEO von Schwarz Digits und Co-Vorsitzender der Expertenkommission „Wettbewerb und KI“ des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie.