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GastkommentarIn Deutschland ist das Misstrauen gegenüber den Wählern groß

Nach den Parlamentswahlen in Frankreich ist zwar unklar, wie es weitergeht. Doch das Ergebnis bietet die Chance, das politische System des Landes endlich zu modernisieren, meint Jakob Ross. Deutschland könne vom französischen Nachbarn einiges lernen. 11.07.2024 - 04:06 Uhr
Der Autor Jakob Ross ist Research Fellow im Alfred von Oppenheim-Zentrum für Europäische Zukunftsfragen der DGAP und arbeitet dort als Experte für die deutsch-französischen Beziehungen. Foto: Bloomberg, Oppenheim-Zentrum für Europäische Zukunftsfragen

Noch einmal gut gegangen! Überraschend hat das Linksbündnis des Nouveau Front Populaire (NFP) nun die zweite Runde der Neuwahl der französischen Nationalversammlung gewonnen und die Rechtsaußen des Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen verdrängt. Diese landete noch hinter Präsident Emmanuel Macrons Ensemble-Bündnis auf dem dritten Platz.

Statt für die politische Zukunft zu werben, warnen Politiker oft nur vor falscher Stimmabgabe

Zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage überraschte die französische Politik Beobachter im In- und Ausland. Nach der Ankündigung Macrons am 9. Juni, die Nationalversammlung aufzulösen, lagen Umfrageinstitute und Analysten mit ihren Schätzungen weit daneben – wohl auch, weil verkannt wurde, wie sehr die französische Entsprechung zur deutschen Brandmauer, der „Front Républicain“, noch wirkt. Nach dem Sieg des RN in der ersten Wahlrunde am 30. Juni, gab es in 217 Wahlkreisen Absprachen zugunsten der jeweiligen RN-Gegner.

Doch auf die Erleichterung folgte schnell Ernüchterung. Denn französische Wähler hatten zwar die RN-Regierungsbeteiligung verhindert, vor der mit drastischen Worten gewarnt worden war: Diplomaten sahen den internationalen Ruf Frankreichs gefährdet, Beamte kündigten Widerstand gegen RN-Minister an. Macron selbst warnte vor drohendem „Bürgerkrieg“. Doch sofort rückte die Frage in den Vordergrund, wie es weitergeht. Und darauf hat bisher niemand überzeugende Antworten.

Die Abstimmung in Frankreich hat erneut das Problem aufgezeigt, das westliche Demokratien seit Jahren beschäftigt: Wahlen drohen zunehmend zum Abwehrkampf gegen Populisten jeder Couleur zu verkommen. Statt für die politische Zukunft zu werben, wird in Berlin, Paris oder Washington viel Zeit darauf verwendet, vor falscher Stimmabgabe zu warnen.

Dass politische Eliten in diesen Städten abgehoben sind, den Kontakt zu Teilen der Mitbürger verloren haben, ist mithin schon eine Banalität der Populisten. Die entsetzten Reaktionen auf die Ausrufung der Neuwahl in Frankreich, gerade in Deutschland, scheinen diese Diagnose nun bestätigt zu haben: Die politischen Eliten verlieren zunehmend das Vertrauen in ihre eigenen Völker.

Emmanuel Macron hat seine Mitbürger für die Zukunft ihres Landes mitverantwortlich gemacht

Macrons Entscheidung, nach seiner Niederlage bei der Europawahl nationale Neuwahlen auszurufen, war sicher gewagt, vielleicht verwegen und vermutlich verfehlt. In jedem Fall aber war es eine demokratische Entscheidung, der politischen Kultur der Fünften Republik entsprechend: Der Präsident, in Frankreich direkt vom Volk gewählt, forderte vom Souverän die nationale Bestätigung der politischen Richtungsentscheidung bei der EU-Wahl.

Dass Macrons Schritt in Deutschland wahlweise als „Selbstmord“, „Russisches Roulette“ oder „Öffnung der Büchse der Pandora“ bezeichnet wurde, machte deshalb vor allem deutlich, wie ängstlich viele Beobachter hierzulande Wahlterminen entgegenblicken.

In Deutschland ist das Misstrauen gegenüber dem Wahlvolk wesentlich ausgeprägter als in Frankreich. Dieser Unterschied ist nicht neu: Er zeigte sich beispielsweise 2005 im deutschen Blick auf Frankreich, als Präsident Jacques Chirac ein Referendum über die EU-Verfassung ausrief, die sein Vorgänger Valéry Giscard d’Estaing führend ausgearbeitet hatte. Die Franzosen versagten ihrem Präsidenten die Zustimmung, Deutschland empörte sich über die „populistische“ Entscheidung Chiracs.

Es gibt viele Gründe, Macrons Vabanquespiel mit der Neuwahl zu kritisieren. Viele seiner einstigen Verbündeten im Parlament hat er für die scheinbare „Klärung“ der Situation geopfert. Er hat die Stärkung politischer Extreme in Zeiten in Kauf genommen, in der die Europäische Union (EU) Stabilität und Geschlossenheit mehr als alles andere braucht. Trotzdem kann man ihm anrechnen, dass er seine Mitbürger mitverantwortlich gemacht hat für die Zukunft ihres Landes.

Macron hat die Tür zu einer Debatte des politischen Systems in Frankreich aufgestoßen – zu einer Aufwertung des Parlaments im institutionellen Gleichgewicht, der Einschränkung der präsidentiellen Allmacht und zu Koalitionsregierungen.
Jakob Ross

Genau das fehlte zuletzt– in Frankreich wie in vielen anderen westlichen Staaten und der EU: ein gemeinsames Zukunftsprojekt, bei dem Bürger und Wähler anpacken und mitgestalten können. Macron hat viel versucht in seiner bisherigen Amtszeit. Der Wut der sozialen Protestbewegung der Gelbwesten opferte er 2019 als Zeichen seines guten Willens die Kaderschmiede École nationale d’administration (ENA).

Nun hat er die Tür zu einer Debatte des politischen Systems in Frankreich aufgestoßen – zu einer Aufwertung des Parlaments im institutionellen Gleichgewicht, der Einschränkung der präsidentiellen Allmacht und zu Koalitionsregierungen. Ob er das bewusst getan hat oder nicht, sei dahingestellt. Aber das ist eine Chance, denn in Frankreich wird seit Langem von einer neuen, Sechsten Republik geträumt.

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Wichtig ist, dass die Franzosen beteiligt sind, und das sind sie mit der historisch hohen Wahlbeteiligung. Scheitert diese Modernisierung, ist es nicht nur Macrons Scheitern, sondern ein Scheitern der französischen Gesellschaft und Politik. Und dann verkörpert der Rassemblement National das Versprechen auf einen Neustart.

Der Autor: Jakob Ross ist Research Fellow im Alfred von Oppenheim-Zentrum für Europäische Zukunftsfragen der DGAP und arbeitet dort als Experte für die deutsch-französischen Beziehungen.

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