Gastkommentar: In Europa herrscht Untergangsstimmung – doch ein Umschwung ist möglich

In vielerlei Hinsicht steckt Europa in der Krise. Neben der Schulden- und Flüchtlingskrise, den geopolitischen Herausforderungen und der Bedrohung unserer freiheitlichen Demokratie destabilisiert auch die demografische Entwicklung den Sozialstaat und untergräbt den Wohlstand – was wiederum soziale und politische Verwerfungen begünstigt. Das allgemeine Versagen, dieser sich verschärfenden „Polykrise“ wirksam zu begegnen, hat zu einer Untergangsstimmung innerhalb der europäischen Öffentlichkeit beigetragen. Sie fühlt sich zunehmend machtlos.
Die EU braucht zur Bewältigung der aktuellen Polykrise eine explizite langfristige Strategie
Allerdings: Die existenziellen Bedrohungen, mit denen wir konfrontiert sind – von bewaffneten Konflikten bis hin zum katastrophalen Klimawandel –, lassen sich überwinden. Jedoch nicht, indem wir „uns die Kontrolle zurückholen“, wie populistische Politiker das versprechen, sondern indem wir lernen, zu kontrollieren, was noch nicht kontrolliert wird.
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Die Europäische Union (EU) braucht zur Bewältigung dieser Polykrise zunächst einmal eine explizite langfristige Strategie. Indien beispielsweise hat einen Fahrplan, um bis 2047 – ein Jahrhundert nach seiner Unabhängigkeit – eine entwickelte Volkswirtschaft zu werden. China plant, die „nationale Verjüngung“ bis 2049, dem hundertsten Jahrestag der Volksrepublik, zu erreichen.
Europa sollte seine eigene Strategie im Jahr 2045 verankern, 100 Jahre nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs. Und es sollte von den Stärken anderer lernen, etwa von der Fähigkeit der USA zu strategischem Denken, wie sie sich in der Arbeit der „Defense Advanced Research Projects Agency“ des US-Verteidigungsministeriums bei der Erforschung und Entwicklung neuer Technologien zeigt.
Die zweite Notwendigkeit besteht darin, robuste neue Regelwerke zu schaffen, die drei kritische Elemente der europäischen Sicherheit abdecken: Finanzen, Verteidigung und soziale Sicherheit. Die neue Finanzarchitektur muss darauf zielen, die Investitionen in Europa zu erhöhen, um die Produktivität zu steigern und technologische Innovationen in wichtigen Sektoren zu unterstützen. Angesichts der strukturellen Zersplitterung in Europa und der kleineren Investorenbasis ist es notwendig, dass es gelingt, Kapital effizient zuzuweisen und Ersparnisse zu mobilisieren. Die Vollendung der Kapitalmarktunion sollte die Hauptaufgabe der neuen Europäischen Kommission sein.
Ein neues Konzept sozialer Wohlfahrt sollte den Bedürfnissen unserer heutigen Zeit entsprechen
Der Krieg in der Ukraine hat gezeigt, dass die bestehende Verteidigungsarchitektur Europas wackelig und langsam ist. Ein neuer Rahmen, der in der Lage ist, das kontinentweite Beschaffungswesen zu bewältigen, die Interoperabilität zwischen den Sicherheitskräften zu unterstützen und Europa einen technologischen Vorsprung zu verschaffen, ist absolut notwendig.
Ebenso muss das neue Konzept sozialer Wohlfahrt in sich schlüssig und fiskalisch tragfähig sein und den Bedürfnissen moderner Gesellschaften entsprechen. In den vergangenen Jahrzehnten hat Europa es zugelassen, dass seine Verbindlichkeiten und Finanzierungsdefizite zum Beispiel in der Gesundheitsfürsorge, im Wohnungsbau oder in Bildung und der Energie stets weiter zunahmen, weil es keinen Konsens darüber gab, wie der moderne Sozialstaat aussehen sollte. Angesichts der Tatsache, dass die Wahrung der europäischen Lebensweise für die langfristige soziale Solidarität unerlässlich ist, kann dies nicht so weitergehen.
Drittens: Wir sollten dringend ein neues, auf Flexibilität, Anpassungsfähigkeit und Subsidiarität beruhendes Organisationsmuster entwickeln. Probleme müssen auf der Ebene in Angriff genommen werden, auf der sie sich entfalten. Globale Herausforderungen wie Klimawandel, Verbreitung von Kernwaffen, Künstliche Intelligenz und Finanzstabilität erfordern eine strukturiertere internationale Zusammenarbeit und Regulierung.
Zu den Herausforderungen, die auf EU-Ebene angegangen werden sollten, gehören die Aktualisierung des europäischen Wirtschaftsmodells, die Steigerung von Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit und der Handelspolitik. Die Nationalstaaten ihrerseits müssen die Solidarität fördern und gemeinsam mit den örtlichen Gemeinschaften für die konkrete Umsetzung der Politik sorgen.
Ebenso ist die Zusammenarbeit zwischen öffentlichem und privatem Sektor enorm wichtig, um die Erfahrungen, das Know-how und die institutionellen Kapazitäten der Unternehmen für die Anpassung, das Risikomanagement und die Krisenbewältigung zu nutzen. Das neue Organisationsmodell sollte eher einem Netz als einer Kette gleichen. Denn die Stärke eines Netzes ist die Summe seiner Knoten, während eine Kette nur so stark ist wie ihr schwächstes Glied.
Europa kann es sich nicht leisten, auf den nächsten Schock zu warten, bevor es aktiv wird. Wenn wir die Polykrise überstehen wollen, brauchen wir heute strategische Reflexion, kollektive Führung und unkonventionelles Denken – geleitet von dem gemeinsamen Ziel einer „Neugründung Europas“ bis 2045.




Der Autor: Thomas Buberl ist CEO von Axa.
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