Geopolitik: Die EU muss wirtschaftliche Sicherheit neu definieren

Mit der US-Präsidentschaftswahl verstärkt sich nicht nur der Druck auf Europa, konventionelle Versäumnisse auszuräumen – von der konstanten Unterfinanzierung bei der Beschaffung von Militärgerät und mangelnder Interoperabilität bis zur langsamen Einsatzfähigkeit der Ausrüstung. Es erhöht sich auch der Zwang, wirtschaftliche Sicherheit neu zu definieren.
Wir stehen in den kommenden Jahren mehr denn je vor der Herausforderung, dass sowohl die chinesische Staatsführung als auch eine möglicherweise von Donald Trump geführte US-Regierung versuchen werden, europäische Länder für sich zu instrumentalisieren. Deutschland und viele andere EU-Mitgliedsstaaten stehen dann vor einem Dilemma, weil sie auf den Handel sowohl mit China als auch mit den USA angewiesen sind.
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Europa kann in dieser Lage nur dann Resilienz und Standhaftigkeit beweisen, wenn Gewährleistung von physischer Sicherheit, Wirtschaftsentwicklung und Unternehmensschutz integriert gedacht werden. Das heißt, nationale Sicherheit ist auch Wirtschaftssicherheit – Unternehmen und Bevölkerung müssen sowohl robust wie auch anpassungsfähig sein.
Trump vs. Harris: Was planen die US-Präsidentschaftskandidaten?
Dazu ist es zuallererst wichtig zu wissen, wo die Schwachstellen liegen. Wo sind wir jetzt angreifbar? Unter welchen zukünftigen Bedingungen? Wo gibt es kritische Technologielücken? Derzeit klafft bei der Beantwortung dieser Fragen noch eine große Wissenslücke in Europa: Die von der Bundesregierung und der EU kürzlich vorgelegten Strategien sind noch weit von der Umsetzung entfernt und bilden weder im vollen Umfang die diagnostischen, die strukturellen noch die rechtlichen Änderungen ab, die nötig wären, um Bedrohungen zu antizipieren.
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Präsidentschaftskandidat Trump droht nicht nur damit, die Nato nach einem möglichen Diktatfrieden zwischen Russland und der Ukraine „einzuschläfern“. Er plant auch, Europa mit Zöllen zu überziehen, die bei zehn Prozent anfangen, aber in Bereichen von „nationalem Sicherheitsinteresse“ deutlich höher sein könnten.
Die demokratische Präsidentschaftskandidatin Kamala Harris signalisiert Bündnistreue, wird aber mehr militärische Einsatzfähigkeit verlangen, während sich strategische Ambitionen der USA auf China konzentrieren. Aber auch ihre Wirtschaftspolitik liest sich in einzelnen Bereichen stark marktverzerrend und protektionistisch. Auf Wirtschaftssicherheit angelegte, neue strategische Partnerschaften können hier helfen, um im Sinne der klassischen Diplomatie neue Optionen zu haben und daher mehr Verhandlungsmasse anbieten zu können.
Risikoanalyse: Europa verfügt nur über lückenhafte Daten
Eine schlüssige wirtschaftliche Sicherheitsagenda für Europa muss über 27 Länder tragen und auf den Resilienz-Ausbau in der europäischen Bevölkerung auf allen Ebenen setzen. Wie kann das gehen?
Um systemische Risiken anzugehen, braucht es bessere Diagnostik. Die US-Handelsbehörde hat dafür „Scale Tool“ entwickelt, ein Rechenmodell, das Daten aus der gesamten amerikanischen Güterwirtschaft nach einer Risiko-Matrix (nach Auswirkungen auf Geopolitik, Klima, nationale Sicherheit, Gesundheitssystem gewichtet) bewertet, um eine punktgenaue Diagnose möglicher Vulnerabilitäten und existenter Resilienz in der amerikanischen Wirtschaft zu ermöglichen, um „blinden Flecken“ vorzugreifen. Hier fließen Daten von Unternehmen und Kommunen gleichzeitig ein.
In Europa gibt es kein vergleichbares System – maximal ein sektorales Bild ergibt sich aus lückenhaften Datenquellen.
Verbündete als Versicherungspolice für globale Interessen
Exportkontrollen, Import- und Investitionsbeschränkungen, Zölle – das Arsenal der möglichen industriepolitischen Interventionen kann erst dann voll wirksam werden, wenn die nationale und internationale Verflechtungsdynamik sichtbar wird und der Umgang mit Bruchstellen geübt und verbessert werden kann.
Die Regierung unter US-Präsident Joe Biden hat, besonders im Wettbewerb mit China, ein „Flechtwerk“ der Verbündeten gewoben, als Versicherungspolice für globale Interessen. Auch die Nato und die G-7 haben erkannt, dass es ohne engere Partnerschaft mit westlich ausgerichteten Demokratien gerade im asiatisch-pazifischen Raum nicht mehr geht. Japan, Südkorea und Australien unterstützen auf unterschiedliche Weise die Anstrengungen der Nato-Staaten in der Ukraine. Auch haben diese Partner – vor allem Australien und Neuseeland – eine Methode der Risikobestimmung, besonders für Desinformation und Industriespionage, von der Europäer lernen könnten.



Wenn die USA als Partner geschwächt auftreten oder sich sogar feindlich gegenüber europäischen Interessen verhalten, dann gilt es, geteilte Diagnostik zu Wertschöpfungsketten, Sanktionsunterwanderung und demokratischer Resilienz besonders mit Partnerländern zu vertiefen.
Die konkreten Handlungsempfehlungen:
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