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Kolumne: Russische ImpressionenZwischen Totalitarismus und Ikea-Küchen: Wie Russland westliche Marken kapert

Mit der russischen Missachtung westlicher Werte und Lebensstile ging all die Jahre eine Bewunderung für westliche Waren einher. Nun werden sie entfremdet.Konstantin Goldenzweig 12.04.2022 - 19:31 Uhr Artikel anhören

Der russische Journalist schreibt für das Handelsblatt wöchentlich die Kolumne „Russische Impressionen“.

Foto: Klawe Rzezcy

„Sie werden den Unterschied zwischen unseren Kondomen und Durex-Produkten nie bemerken“, erklärt der Geschäftsmann Alexander Gerstein der russischen Mediengruppe RBK. „Beide basieren auf den gleichen Rohstoffen und den gleichen Technologien. Deswegen dachte ich, dass Durex von nun an im russischen Werk unseres Partners hergestellt werden sollte.“

Hier geht es nicht nur um Kondome. Nein es geht auch um das Eigentumsrecht in Russland, das derzeit ebenso dehnbar ist wie ganz allgemein das Recht eines Staates, der sich in einer sogenannten „Sondermilitäroperation“ befindet. Wo manche nichts außer Scham und Finsternis sehen, entdecken andere glänzende Chancen.

Zusammen mit seinem Partner Wadim Rjabtschenko versucht Gerstein dieser Tage, mehrere Dutzend westliche Marken neu zu registrieren. Es sind Marken von Unternehmen, die im Februar 2022 nach dem Ausbruch des von Moskau entfesselten Kriegs in der Ukraine den russischen Markt teilweise verlassen haben.

Die findigen Unternehmer stehen nicht allein. Nivea, Dior, BMW, Mastercard, Pampers – Anträge für diese und Dutzende andere Marken von verschiedenen, bisher unbekannten Organisationen gingen den ganzen März über bei „Rospatent“ ein, der staatlichen Behörde, die für die Durchsetzung der Gesetze zum Schutz des geistigen Eigentums zuständig ist. Die diversen Antragsteller eint ein schier unerschöpflicher Einfallsreichtum, der an die wilden 90er-Jahre in Russland erinnert.

Unter der Marke Audi wird nun vorgeschlagen, Reinigungsmittel und Parfums zu verkaufen. In Anlehnung an das schwedische „Ikea“ will die neue Marke „Idea“ erschwingliche Möbel produzieren und statt Nespresso-Kaffeemaschinen und -kapseln sollen NeZpresso-Produkte hergestellt werden – der Buchstabe „Z“ als Zeichen der tapferen russischen Befreiungsarmee soll die neuen Besitzer offenbar gleichzeitig vor rechtlichen Konsequenzen schützen.

Noch ist nicht klar, ob die Unternehmen die gekaperten Marken wirklich erfolgreich werden registrieren können. Doch die Firmen setzen ihre Hoffnungen anscheinend darauf, dass Russland im Zuge der weiteren Verschlechterung der Beziehungen zu den sogenannten „unfreundlichen Ländern“ deren geistiges Eigentum nicht mehr anerkennt. Im Russischen gibt es für solche Geschäfte ein altes Sprichwort: „Für die einen ist es Krieg, für die anderen eine fürsorgliche Mutter.“

In Anlehnung an das schwedische „Ikea“ will eine neue russische Marke „Idea“ erschwingliche Möbel produzieren.

Foto: dpa

Ein Vorbild für dubiose Unternehmer ist der Staat selbst, der den Schutz privaten Eigentums infrage stellt – wenn dieses westlichen Investoren zuzuordnen ist, die sich aus dem russischen Markt zurückgezogen haben. Der Vorsitzende der Staatsduma, Wjatscheslaw Wolodin, forderte gleich nach der Schließung der McDonald’s-Filialen die Gründung einer russischen Fast-Food-Kette „Bei Onkel Wanja“ – selbstverständlich unter Nutzung der gerade geschlossenen Filialen. Seitdem ist ein Monat vergangen, die Filialen sind noch leer.

Der russische Patriotismus und das Gefühl der Straflosigkeit erzeugen jedoch ein verblüffendes Selbstbewusstsein. Zum Beispiel bei den ehemaligen russischen Partnern der deutschen Handelskette Obi. Mitte März versuchten sie trotz der Entscheidung der deutschen Führung, alle Filialen zu schließen, einfach weiterzuarbeiten – als wäre nichts geschehen. Erfolgssicher öffneten russische Manager am Morgen des 17. März die Obi-Märkte wieder.

Doch am Nachmittag trennte die deutsche Seite einfach die Kassen von den Servern – eine eigene Software hatten die neuen „Besitzer“ nicht. Seit einigen Wochen arbeiten sie unermüdlich daran, ihre „technischen Ausfälle“ zu beseitigen.

Weder das Getöse der Luftangriffe auf die ukrainischen Städte noch die Aufnahmen von erschossenen Einwohnern erreichen die meisten russischen Bürger, die weiterhin an die „Denazifizierung der Ukraine“ von Putin glauben, der angeblich einfach „keine andere Wahl mehr“ hatte.

Verwirrt stehen sie vor leeren Einkaufsregalen und geschlossenen Läden. Vor den Aufzügen und Rolltreppen sind nun die Schilder von „Zara“, „H&M“, „Adidas“ und vielen anderen Marken durchgestrichen. „Hoppla, was ist passiert?“, wird sich wohl der russische Käufer fragen – und vielleicht wird er oder sie tatsächlich darüber nachdenken, was geschehen ist.

Es ist paradox, aber mit der russischen Missachtung westlicher Werte und Lebensstile ging all diese Jahre eine Bewunderung für westliche Waren einher. Jeder zahlungskräftige russische Bürger konnte sich ohne zu zögern zwischen einem deutschen und einem russischen Auto, zwischen einem chinesischen und einem amerikanischen Smartphone entscheiden.

Schmuggel europäischer Kleidung könnte als Nächstes folgen

Einzelhandelsexperten sind sich einig, dass demnächst wieder mit illegalen Lieferungen von iPhones über Drittländer der große Reibach gemacht wird. Das Gleiche gilt für den Schmuggel europäischer Kleidung. Und es wird ähnlich ablaufen wie damals in der Spätphase der Sowjetunion, als italienische Jeans oder französische Parfums bei sogenannten Spekulanten gekauft werden konnten. Diese Geschäftemacher handelten entweder mit Fälschungen oder standen mit Ausländern im Kontakt, die das selbst isolierte Land besuchten.

In einer Atmosphäre absoluter Lügen ist es nicht entscheidend, ob sich diese westlichen Marken als echt herausstellen und ob der Zugang zu ihnen legal ist. Vieles scheint Illusion zu sein heutzutage in Russland, einem Land, das einerseits in den Totalitarismus schreitet und andererseits von Ikea-Küchen träumt.

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Der russische Journalist Konstantin Goldenzweig schreibt für das Handelsblatt wöchentlich die Kolumne „Russische Impressionen“. Der 39-Jährige war von 2010 bis 2020 für verschiedene russische TV-Sender Korrespondent in Deutschland. Zuletzt arbeitete er bei Doschd, dem letzten unabhängigen russischen TV-Sender, bis dieser den Betrieb einstellen musste. Im März 2022 floh er aus Moskau, um aus Georgien weiter zu arbeiten – wie viele seiner russischen Kollegen auch.

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